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Keiner bleibt zurück - nur Hafize

Vor einem Jahr rüttelte der Hilferuf der Berliner Rütli-Schule die Nation auf. Dann gab s viel Lärm um wenig. Es finden sich zwar viele Modellprojekte, es wird gebastelt und experimentiert. Aber eine Strategie für die Bildungskrise von sozial Schwachen bleibt die Politik weiter schuldig

VON CHRISTIAN FÜLLER UND NATALIE WIESMANN

Sie hat es versucht. Dreimal. Es geht nicht. Hafize bekommt den Satz nicht hin: "Um von minus fünf Euro auf Null zu kommen, muss ich fünf Euro einnehmen." Sie stolpert bei minus fünf, vergisst das Wort Euro zu nennen. Sie kommt nicht über das Komma hinüber. Hafize blickt auf den Zahlenstrahl aus rot-grünem Karton, der vor ihr auf dem Tisch liegt. Dann stottert sie wieder los.

Karin Jaeger bittet sie hinaus auf den Gang. Die Lehrerin möchte helfen, aber sie muss mit den anderen weitermachen. Eine Mitschülerin wird versuchen, Hafize den Satz beizubringen. Auf dem Flur. Die achte Klasse an der Heinrich-von-Stephan-Schule, einer Haupt- und Realschule in Berlin-Tiergarten, fährt fort. Hafize bleibt zurück.

Vor einem Jahr schreckte ein Weckruf die Nation auf. Damals kollabierte die Rütli-Oberschule in Berlin-Neukölln. Die Lehrer schrieben einen Brief an ihren Schulrat: "Die Hauptschule muss in dieser Zusammensetzung aufgelöst werden", hieß es darin, "sie ist am Ende der Sackgasse angekommen" (siehe Kasten). Danach brauste eine Art Orkan über die Bundesrepublik. Er wirbelte sorgsam gehütete Lebenslügen durcheinander. Was lernen Einwandererkinder? Ist die Hauptschule kaputt? Was macht Perspektivlosigkeit aus Jugendlichen?

Ein Jahr nach Rütli ist die Bilanz mager. Die Innenminister beriefen schnell einen nationalen Integrationsgipfel ein, Experten packten kluge Studien aus. Aber das war viel Lärm um fast nichts. Der Rütlischwur war verlogen. Alle kennen das Problem - wirklich geholfen wird nicht. Selbst dann nicht, wenn die Vereinten Nationen Deutschland ganz offiziell für seine diskriminierende Bildungspolitik mit Migranten rügen.

"Geredet wurde viel", sagt Jens Großpietsch, der Leiter der Heinrich-von-Stephan-Schule, "passiert ist im Grunde ganz wenig." Die große Strukturreform ist ausgeblieben. "Wir hatten die Chance, das Schulsystem auf zweigliedrig umzubauen - die haben wir verpasst." Großpietschs Schule und Hafize stehen beispielhaft für das, was seit Rütli passiert ist. Oder besser: nicht passiert ist.

Das Kollegium der Stephan-Schule hat aus einer rütliähnlichen Schule der Hoffnungslosigkeit in 15 Jahren eine der besten Deutschlands gemacht. Sie haben das Lernen umgekrempelt und wurden mit der Theodor-Heuß-Medaille ausgezeichnet. Die Süddeutsche hat in der Stephan-Schule das "Wunder von Moabit" erkannt. Nur, auch diese Schule kann Hafize nicht helfen.

In der Mittagspause sitzt Hafize, eine zierliche, hübsche Frau, auf dem Kinderspielplatz gegenüber der Schule in der Sonne. Ihre Lehrerin sieht sie vom Klassenzimmer aus. "Hafize hat mit vielem abgeschlossen", erzählt Karin Jaeger. "Sie macht einfach nicht mit." Dabei kann man sich gut mit Hafize unterhalten, sie ist in Deutschland geboren. Aber es fällt ihr schwer, sich zu konzentrieren. Und auf Lernen hat sie keine Lust. "Ich bin mir nicht mehr sicher, ob sie bei uns richtig ist", sagt Jaeger.

Karin Jaeger ist beileibe keine Rausschmeißpaukerin, sondern eine engagierte Pädagogin. Die 51-Jährige ist seit langem an der Stephan-Schule, sie hat sie mit in eine Haupt- und Realschule umgebaut und dafür an anderen Reformschulen hospitiert. Karin Jaeger steht voll hinter dem Satz ihres Rektors: "Wir lassen keinen Schüler sitzen und wir schmeißen auch keinen raus - es sei denn, er fuchtelt mit einem Revolver herum." Sie lassen dort kein Kind zurück - außer Hafize. Sie ist die Ausnahme.

Im Vergleich zur Stephan-Schule ist in Deutschland und Berlin seit dem Rütli-Schock praktisch nichts passiert. Und alles, was besser wurde, enthält immer einen kleinen Betrug. Etwa die Zusage, ein zusätzlicher Lehrer für jede Hauptschule. Das wurde in Berlin nach der Rütli-Krise versprochen. Doch dieser eine junge Kollege, den sich die Hauptschulen aussuchen konnten - er war gar nicht zusätzlich. Er war in Wirklichkeit nur dazu da, einen ausgebrannten in den Ruhestand schicken zu können.

Zwar wagt heute keiner mehr, das eklatante Defizit an Chancen für Einwandererkinder abzustreiten, das Rütli für alle sichtbar machte. Aber wer nach konkreten Maßnahmen und Geld fragt, wird angepflaumt, angelogen oder in den föderalen Kompetenzdschungel verwiesen.

Als Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) jüngst nach seinen Schlussfolgerungen aus der Rütli-Krise gefragt wurde, blaffte er die Journalisten an: "Sie werden mit mir doch keine bildungspolitische Fachdebatte führen wollen!" Wowereit saß gerade bei einer Pressekonferenz - in einer Schule.

Das ist zugleich das Muster der Bildungs- und Integrationspolitik seit Rütli. Besonders gilt das für jene Aktion, die zunächst am vielversprechendsten klang: Die Einberufung eines nationalen Integrationsgipfels vergangenen Sommer. Der Gipfel wurde allgemein beklatscht, weil eine schwarz-rote Regierung schaffte, was Rot-Grün nicht einmal versucht hatte: zum ersten Mal die MigrantInnenverbände mit an einen runden Tisch zu holen. Allein, der Gipfel hat bislang noch kein einziges greifbares Ergebnis gebracht.

Selbst wenn die damals installierten Arbeitsgruppen wie geplant diesen Sommer zu Beschlüssen kommen, so bleibt die große ungelöste Frage: Wer setzt die nötigen Veränderungen durch in Deutschland, wo die Schulen Ländersachen sind? Und: Wer ist wirklich bereit, Geld in die Hand zu nehmen, um aus den Brennpunktschulen die besten im Lande zu machen?

Niemand! Beispiele aus den Bundesländern zeigen: Überall wird ein bisschen gebastelt und experimentiert - den großen Sprung kann oder will keiner tun. Nordrhein-Westfalen, immerhin, war nicht ganz so knauserig wie der Rest des Landes bei der Ausstattung der Hauptschulen. Dort kamen immerhin Einskommanochwas Lehrerstellen zusätzlich an - pro Schule. Von der Forderung nach "einer Kraft mehr in jeder Klasse einer Brennpunktschule", wie sie mancher Rektor (siehe Seite 2) fordert, ist auch Düsseldorf noch weit entfernt.

In der Stephan-Schule knobelt Hafize gerade an Dreisätzen. Sie ist wieder auf dem Flur, eine freiwillige Schulhelferin arbeitet mit ihr. Die Frau gehört zu dem Unterstützungssystem, das sich das Kollegium zusammenorganisiert hat - eine Mischfinanzierung aus Bonusstunden von Lehrern, kommunaler Sozialarbeit sowie ehrenamtlichem Engagement. Für Hafize wird es trotzdem nicht reichen. "Wir kommen kaum an sie heran", sagt Karin Jaeger. "Und das hat mit Schule nicht so viel zu tun."

Das Mädchen nämlich, das erst so fröhlich lacht und dann wieder wie apathisch neben Freundinnen auf einer Bank im Pausenhof sitzt, hat ein einschneidendes Problem. Es ist ihr Zuhause. Sie fühlt sich nicht wohl in ihrer strengen Familie. Einen deutschen Freund darf sie nicht haben, die Familie wird aller Voraussicht nach ihren Ehemann aussuchen "Sie will das eigentlich nicht, aber sie kann auch nicht einfach darüber sprechen", erzählt Karin Jaeger. Die engagierte, kraftvolle Lehrerin wirkt plötzlich hilflos wie ein Kind.

"Wir bräuchten extra eine weibliche Sozialarbeiterin, um an sie heranzukommen", sagt Rektor Großpietsch. "Und einen männlichen, der gegenüber ihrem Vater Autorität hätte. Aber den kann ich mir nicht schnitzen."

Hafize lebt in einer fragilen Gegenwart und steht vor einer ungewissen Zukunft. Die Deutsche türkischer Herkunft ist ein Symbol für die gehemmten Chancen der Einwandererkinder in Deutschland. Von ihren Eltern werden sie nicht gefördert, sondern gebremst. Und die staatlichen Schulen lassen sie von Anfang an hängen. Auch nach Rütli.

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