Zeit: Die Arbeitszeit läuft ab

Warum verschenken Chefs goldene Taschenuhren zur Pensionierung? Edward P. Thompsons Studie "Blauer Montag" erzählt die Geschichte der Arbeitsdisziplin als eine Geschichte des Zeitmanagements.

Hebt eine schicke Uhr vom Chef die Arbeitsmoral? Bild: dpa

Edward P. Thompson hat selbst Geschichte geschrieben. 1963 veröffentlichte der britische Historiker sein berühmte Studie "Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse" und wurde damit zum Mitbegründer der cultural studies. Jetzt hat der Nautilus Verlag unter dem Titel "Blauer Montag" einen Essay Thompsons über "Zeitempfinden" und "Arbeitsdisziplin" im Zeitalter der Industrialisierung veröffentlicht. Vierzig Jahre ist der Aufsatz alt, und trotzdem wirkt er ziemlich aktuell: Allein die große Zahl der Ratgeber zum Thema "Zeitmanagement" und "Arbeitsorganisation" lässt ahnen, dass der Kampf um die beiden wertvollsten Ressourcen der Menschheit auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts lange nicht ausgestanden ist.

Der Reihe nach. Thompson geht weit zurück bis ins Mittelalter und in die frühe Neuzeit. Damals beginnt der Arbeitstag mit Sonnenaufgang und endete in der Dämmerung. Kürzere Zeiteinheiten schätzt man, in dem man auf alltägliche Tätigkeiten zurückgreift. Im englischen Sprachgebrauch setzt sich damals neben "pater noster while", der Zeit also, die man zum Aufsagen eines Vaterunsers benötigt, auch die "pissing while" durch, eine eher "willkürliche Maßeinheit", wie Thompson belustigt anmerkt. Der lässige Umgang mit der Zeit ändert sich erst mit dem vermehrten Auftreten abhängiger Beschäftigung im 17. Jahrhundert. In der Landwirtschaft zum Beispiel wird der Aufwand bestimmter Arbeiten jetzt in "Tagewerken" gemessen: "Hier schon beginnt Zeit Geld zu bedeuten", und zwar "Geld des Chefs".

Mit dem Beginn der industriellen Revolution entsteht das Bedürfnis nach einer präziseren Zeitmessung. Die Arbeitsteilung und der Einsatz schwerer Maschinen erfordern die Synchronisation einzelner Prozesse und der daran beteiligten Menschen. Die Taschenuhr, deren Genauigkeit gerade erst durch die Einführung der spiralförmigen Unruhfeder verbessert worden war, reguliert nun "den neuen Rhythmus des industriellen Lebens" und wandelt sich im 18. Jahrhundert vom Luxusobjekt zum Gebrauchsgegenstand. In England gründen sich "clock and watch clubs" zum gemeinschaftlichen Ratenkauf, und wie eng die personellen Verbindungen zwischen dem Fortschritt auf dem Gebiet der Chronometrie und der technischen Weiterentwicklung der Produktionsmittel sind, verrät eine schriftliche Quelle aus dem Jahre 1798: "Die Woll- und Baumwollindustrie", heißt es dort, "verdankt die Vollkommenheit ihrer Maschinen gänzlich den Uhrmachern".

Der 1993 verstorbene Edward P. Thompson kann spannend schreiben und versucht gar nicht erst, seine Leser mit der abstrakten Terminologie der Sozialgeschichtsschreibung und ihren unübersichtlichen Tabellenwerken zu beeindrucken. Darüber hinaus ist der bekennende Marxist jederzeit bereit, längere sachliche Ausführungen für eine bissige Pointe zu opfern: Dass die goldene Taschenuhr im 19. Jahrhundert zum Standardpräsent des Firmenchefs an seine leitenden Angestellten wird, als Dank für "50 Jahre sklavischer Arbeitsdisziplin", ist nur eine der vielen bissigen und zynischen Randbemerkungen in diesem äußerst unterhaltsamen Text.

Die zunehmende zeitliche Kontrolle der Fabrikarbeit zwingt dem Alltag einen neuen Takt auf. Während in der frühen Neuzeit ein "Wechsel von höchster Arbeitsintensität und Müßiggang" herrschte und auf ein "durchzechtes Wochenende" nicht nur ein "blauer Montag", sondern gerne noch ein arbeitsfreier Dienstag folgte, setzen bereits um 1700 einzelne Unternehmer mit Hilfe von minutiösen Zeitplänen und Aufsehern ihre Vorstellungen von Pünktlichkeit durch. Überwachen und Strafen allein können den "Müßiggang" der "widerspenstigen Arbeiter" allerdings nicht im Zaum halten, und so geht der industrielle Kapitalismus in England laut Thompson eine "Vernunftehe" mit der puritanischen Ethik ein. Einschlägige Schriften wie John Wesleys Predigt über "die Pflicht und die Vorteile des Frühaufstehens" preisen die Zeit als "kostbare Gabe" und brandmarken ihren Verlust als "unverzeihlich".

Der Erfolg der vereinten Disziplinarstreitkräfte bleibt nicht aus. Hatten sich die Fabrikarbeitern anfänglich noch gegen den neuen Lebensrhythmus gewehrt, so haben die ersten Arbeitervereinigungen im 18. Jahrhundert das neue Zeitregime bereits internalisiert. Sie setzen sich für Verkürzungen des Arbeitstags ein und streiten für Überstunden- und Feiertagszuschläge. Sie kämpfen nicht "gegen, sondern um die Zeit", so das lakonische und leicht desillusionierte Fazit am Ende von Thompsons Essay: "Die Arbeitnehmer hatten die Kategorien ihrer Arbeitgeber akzeptiert."

Im Jahre 1967, als der Essay in der Zeitschrift Past and Present veröffentlicht wurde, hatte sich diese Situation nicht entscheidend geändert, und auch in den nächsten Jahren beherrschten Auseinandersetzungen um die 40- oder 35-Stunden-Woche die Diskussion über "Zeit" und "Arbeit". Doch wie sieht es heute aus?

Das halb kämpferische, halb esoterische Vorwort des linken Politikwissenschaftlers John Holloway, das der Verlag Thompsons Essay unglücklicherweise vorangestellt hat, trägt nicht zur Klärung dieser Frage bei. Dabei gäbe es zahlreiche Anknüpfungspunkte. Unter anderem dürfte Thompson Utopie einer Überwindung der "klaren Trennung" zwischen fremdbestimmter Arbeitszeit und Privatleben derzeit in Erfüllung gehen - allerdings anders, als der marxistische Historiker es sich vorgestellt hat. Nicht wenige Unternehmen schaffen heute, wie die amerikanische Elektronikkette Best Buy, die Stechuhr ab und setzen stattdessen auf "results-only work environments". Die Angestellten dürfen sich ihre Arbeit vollkommen frei einteilen und müssen nicht einmal in ihren Büros sitzen: Ein "blauer Montag" ist kein Problem, solange sie die gewünschten Ergebnisse bringen.

Auch hier spielt der technische Fortschritt eine wichtige Rolle. Der Laptop bindet Angestellte auch zu Hause in das Firmennetzwerk ein, und wenn die Taschenuhr einst den Alltag des Arbeiters mit dem Takt der industriellen Produktion synchronisierte, so sorgt heute der Blackberry dafür, dass die E-Mail-Kommunikation mit dem Unternehmen auch nach Feierabend, in der Lounge und im Urlaub weitergeht. Die Angestellten im 21. Jahrhunderts erobern so die Herrschaft über die Zeit zuletzt doch noch von Unternehmern zurück und bestimmen Rhythmus und Takt ihrer Arbeit wieder selbst. Aber sie bezahlen einen hohen Preis dafür. Mit detaillierten To-do-Listen, prall gefüllten Timeplanern und mühsam angesparten "sabbaticals" führen sie einen Kampf um die Zeit, der jetzt zum Kampf gegen sich selbst geworden ist.

John Holloway, Edward P. Thompson: "Blauer Montag. Über Zeit und Arbeitsdisziplin". Aus dem Englischen von Lars Stubbe. Edition Nautilus, Hamburg 2007, 92 Seiten, 10,90 Euro

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