Bietigheim-Bissingen: Schlank in fetten Jahren
Jürgen Kessing hat Erfahrung mit dem Überfluss. Seine Stadt Bietigheim-Bissingen ist schon lange reich - und schuldenfrei.
BIETIGHEIM-BISSINGEN taz Die Neuverschuldung auf null drücken? Bis spätestens 2011? Jürgen Kessing zieht die Augenbrauen ein wenig hoch, wenn er auf die stolze Ankündigung von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück angesprochen wird. "Dann machen wir keine neuen Schulden", stellt er klar. "Aber wir haben trotzdem noch 1,5 Billionen. Die müssen ja auch mal zurückgezahlt werden."
Schulden in Berlin: Bundesfinanzminister Peer Steinbrück hat am Mittwoch der Bundesregierung seine Haushaltspläne vorgelegt. Stolz kündigte der Sozialdemokrat an, bis spätestens 2011 die Neuverschuldung auf null drücken zu können. 2008 wolle er noch 12,9 Milliarden Euro neue Kredite aufnehmen. Die Wirtschaftslage ist wieder gut, was mehr Steuern bringen wird. Zudem wurde ja die Mehrwertsteuer erhöht. Einige Bundespolitiker fordern deshalb, dass schon früher keine neuen Schulden mehr gemacht werden. Andere, wie Arbeitsminister Franz Müntefering, halten dagegen, der Staat dürfe sich "nicht zu rabiat" entschulden. Vielmehr müsse er mehr Geld investieren.
Erspartes in Bietigheim-Bissingen: Seit 2004 ist die schwäbische Stadt schuldenfrei. Oberbürgermeister Jürgen Kessing (50, SPD) und sein Kämmerer konnten sogar 20 Millionen Euro für schlechte Zeiten zurücklegen. Das ergibt eine Pro-Kopf-Rücklage von 400 Euro. Dagegen hat jeder Deutsche etwa 1.100 Euro an kommunalen Schulden. Rechnet man noch die Schulden von Bund und Ländern hinzu, macht das eine Pro-Kopf-Verschuldung von fast 18.000 Euro.
Kessing ist Oberbürgermeister einer der reichsten Städte Deutschlands. Bietigheim-Bissingen, 42.000 Einwohner, nördlich von Stuttgart. Er hat sein Leben lang auf öffentliches Geld aufgepasst. Erst im Rechnungsprüfungsamt im pfälzischen Neustadt, dann in der Stadtkämmerei von Kaiserslautern. In Kurt Becks Mainzer Staatskanzlei, später im Rathaus von Dessau in Sachsen-Anhalt. Vielleicht kann so einer ja Auskunft geben, wie die Politiker umgehen sollen mit dem Geld. Mit all den Gewerbe-, Einkommen- und Mehrwertsteuern, die in die Kassen strömen werden, da die Wirtschaft in Deutschland ja wieder wächst und die Menschen mehr ausgeben. Was fette Jahre angeht, hat Kessing einen Erfahrungsvorsprung, der Peer Steinbrück aussehen lässt wie einen Prasser. Bietigheim-Bissingen geht es so gut, dass es seit 2004 überhaupt keine Schulden mehr hat.
Es finden sich kaum Hinweise darauf, dass diese Stadt reich ist. Vielleicht der Porsche auf dem Rathausparkplatz, der Kessings Sekretärin gehört. Oder das Kommandofahrzeug der Freiwilligen Feuerwehr, selbe Marke. Aber der Bahnhof ist ein Bau aus der Nachkriegszeit, und einen Stadtkern mit Fachwerkhäusern haben viele Orte in Schwaben. Das Stadtoberhaupt selbst macht überhaupt keinen bonzigen Eindruck. 50 Jahre alt, Vegetarier, grauer Anzug, hinten im Mercedes Kombi ein Kindersitz. Fette Jahre, so etwas würde Kessing nie sagen. Seine unbescheidenste Formulierung ist: "Es sieht nicht schlecht aus." Den Porsche Cayenne für die Feuerwehr hat sein Vorgänger angeschafft.
Aber der Vorgänger muss auch ein tüchtiger Sparer gewesen sein, denn als Kessing vor drei Jahren aus Dessau kam, da war Bietigheim-Bissingen praktisch schon raus aus der Verschuldung. Inzwischen stellt seine Stadt schon das vierte Jahr in Folge Rekorde bei den Gewerbesteuereinnahmen auf. Die drei Bäder werden gerade aus dem laufenden Haushalt schick gemacht, ohne dafür einen Cent Kredit aufzunehmen.
Warum in Bietigheim-Bissingen seit 2004 am Ende jedes Haushaltsjahres ein Plus steht, versteht man, wenn Kessing seine neue Stadt im Westen mit seiner alten im Osten vergleicht. In Dessau war er Finanzbürgermeister. Die Stadt ist nicht mal doppelt so groß, beschäftigt aber dreimal so viele städtische Angestellte. Dessau hat eine Berufsfeuerwehr, Bietigheim-Bissingen dagegen nur eine Freiwillige Feuerwehr. Im Osten leisten sie sich ein städtisches Theater mit Oper, Schauspiel und Ballett. Die Schwaben holen dagegen lieber mal das schwedische Nationalorchester in die Stadthalle, und im Rathaushof gibt es im Sommer Freilufttheater.
Erfahrungsvorsprung Ost
Das Geld bringt die Wirtschaft. Porsche hat fünf Tochterfirmen in der Stadt, der Vorstandsvorsitzende, der Kommunikations- und der Finanzchef wohnen hier. Im "Schiller" am Markt tüfteln sie ihre Strategien aus. Es gibt aber noch viele andere Firmen. Scheibenwischer, Zahnarzttechnik, Bodenbeläge, ein Auktionshaus für Briefmarken und ein großer Notebook-Taschen-Hersteller, der vor 15 Jahren als Zwei-Mann-Betrieb gestartet ist. Der Hemdenhersteller Olymp produziert zwar in Asien, aber immerhin 280 Mitarbeiter kümmern sich in Bietigheim um Design, Entwicklung und Vertrieb. Das gestreifte Hemd des Oberbürgermeisters ist natürlich von Olymp. "In Dessau hatten wir als größten Steuerzahler die Sparkasse", sagt er, "danach kamen die Stadtwerke." Es klingt nicht gehässig, sondern eher vergeblich, als sei ein Teil von ihm in der alten Stadt geblieben.
Kessing wurde 1996 nach Dessau geholt, weil sie dort einen brauchten, der sich ums Geld kümmert. Es gibt Politiker, die fesselnde Reden halten können, andere, die großartige Visionen entwickeln, und wieder andere mit einem Killerinstinkt in Machtfragen. Und es braucht welche fürs Geld. So einer ist Kessing. Er macht die Kasse. Verschwendung, Verschuldung, er spricht darüber unendlich geduldig und mit sparsamen Gesten.
In Dessau handelte er mit den städtischen Angestellten eine 35-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich aus, um die Ausgaben zu begrenzen. Er konnte die Neuverschuldung drücken. Er fischte den Handballverein aus der Pleite und wurde Vereinspräsident, obwohl er selbst als Junge lieber Leichtathletik machte und Fußball spielte.
Vielleicht hat so einer irgendwann das Gefühl, dass es genug ist mit dem Aufräumen und Retten. Kessing erzählt, er habe eine Stadt im Süden gesucht, mit einem Fluss und möglichst mit Weinanbau, weil man da mit den Leuten gut reden könne. Es sollte auch eine Stadt sein, die gut gewirtschaftet hat. Er bewarb sich in Bietigheim-Bissingen, wo früher mal Lothar Späth Bürgermeister war und die SPD noch nie eine OB-Wahl gewonnen hatte. Aber die CDU-Leute fielen gegenseitig übereinander her, und der nüchterne Kessing gefiel den Schwaben. So kam es, dass ein pfälzischer Sozi mit Osterfahrung eine der reichsten Städte Deutschlands eroberte.
Die drei Kessing-Regeln
Er fand dann noch fünf, sechs Posten, die nicht sein mussten. Seinen Chauffeur brachte er im Ordnungsamt unter, Kessing hat ja schließlich auch den Führerschein. Aber nun geht es mehr und mehr darum, was die Stadt machen soll mit ihrem Geld. Gewerbe- und Grundsteuern sind schon niedriger als im baden-württembergischen Durchschnitt. Und während in Deutschland auf einen Bürger 1.000 Euro an kommunalen Schulden kommen, hat Bietigheim-Bissingen pro Einwohner schon 400 Euro für schlechte Zeiten zurückgelegt.
Die Bürger wissen, dass Geld da ist. Kessing erzählt von einem Sportverein, der neue Umkleiden brauchte. Kosten: Einskommadrei! Millionen! Er schaut, als habe die Feuerwehr zum Porsche Cayenne noch einen Löschwagen von Ferrari beantragt. "Das war mir zu teuer." Jetzt baut der Verein die Umkleiden selbst, direkt an seine Gaststätte, da kann der den Heizkessel für die Duschen mit nutzen. 100.000 Euro vom Verein, 250.000 gibt Kessing, und dem Land haben sie 50.000 aus der Vereinsförderung rausgeleiert.
Das ist eine der Kessing-Regeln: auch in guten Zeiten schlank bleiben, ohne die Projekte abzuwürgen.
Das größte Vorhaben ist jetzt ein Kinderhaus. 100 bis 120 Kinder sollen dort betreut werden. Ganztägig und vom Babyalter bis zum zwölften Lebensjahr. Kessing will Familien in die Stadt holen, und die Unternehmer sagen ihm auch, dass sie nicht jahrelang auf Mitarbeiterinnen verzichten wollen, nur weil die Kinder bekommen haben. Das Kinderhaus wird kein Flachbau, sondern ein Mehrgeschosser: erster und zweiter Stock Kinderbetreuung, darüber Wohnungen. Durch die Mieten kommt wieder Geld rein. Regel zwei: Folgekosten so gering wie möglich halten.
Ein Ganztagsplatz für Kinder unter drei Jahren wird 300 Euro im Monat kosten. Familien mit geringem Einkommen zahlen die Hälfte. Trotzdem fragen viele, warum die Betreuung was kosten muss, wenn die Stadt doch reich ist. "Immer Richtung kostenlos", sagt Kessing. "Gerade Eltern, die alles kostenlos wollen, haben für alles Geld. Für Zigaretten, für Whopper und Handys. Bloß nicht für die Bildung ihrer Kinder. Was nichts kostet, ist auch nichts wert." Das ist Kessings dritte Regel. Wenn einmal etwas kostenlos ist, wollen alle etwas gratis.
"Die Begehrlichkeiten wachsen im Quadrat", sagt er, "mit jedem guten Jahr." Seit einigen Monaten muss er sich mit einer Bürgerinitiative rumschlagen, die für die Senkung der Gaspreise kämpft. Die Leute wissen, dass 2007 schon wieder ein gutes Jahr wird. Die Experten im Arbeitskreis Steuerschätzung haben für das Bundesfinanzministerium im Mai ihre Prognose korrigiert. Gegenüber der alten Schätzung sollen bis 2010 fast 180 Milliarden Euro mehr Geld in die öffentlichen Kassen fließen. "Wenn es kommt, wenn es kommt", beschwichtigt Kessing. Er ist Betriebswirt. Ihn wundert, dass jetzt die Minister in Berlin schon um das Geld feilschen, obwohl es noch gar nicht verdient ist.
Lieber pessimistisch sein
Kessing sagt auch das gelassen. Er kennt den Hang zu Steuergeschenken, die kurzfristigen Interessen der Politiker und ihrer Wähler. Er respektiert die große Politik trotzdem. Mit 15 Jahren hat er sich Willy Brandt an einem SPD-Stand in Ludwigshafen so lange angeschaut, bis der Kanzler ihn angesprochen hat. Mit Mitte 40 hat er es genossen, wenn in Dessau in Wahlkämpfen die großen Politiker vorbeikamen und er sie kennen lernte. Schmidt, Kohl, Weizsäcker, Gysi, Merkel, sie faszinieren ihn.
Aber um das Geld kümmert er sich. Da ist er streng. Er hat in Kaiserslautern erlebt, wie 1990 alle damit gerechnet haben, dass Opel eine Rekordsumme an Steuern zahlt. Und wie dann, als Opel es sich anders überlegte, das erwartete fette Jahr auf einmal ganz mager ausfiel. Trotz all der Firmen ist auch Bietigheim-Bissingen von Porsche abhängig. Darum ist Kessing vorsichtig. Lieber pessimistisch sein.
Er steht auf der Bühne in der Stadthalle. Er hat zu einem Seniorennachmittag eingeladen. Rentner im Sonntagsanzug, Rentnerinnen in Baumwolljacken. Als ihr OB vom neuen Kinderhaus erzählt, gucken die Senioren streng. Er erklärt, dass die Mütter heute nicht mehr die Kinderbetreuung voll übernehmen wollten oder könnten. Er kündigt an, dass im Kindergarten demnächst Musikerziehung angeboten wird. Kostenlos, ausnahmsweise. Dann verkündet er den Senioren: "Die Situation ist so, dass wir Ihnen auch diesen Nachmittag anbieten können. Kostenlos!"
Auf den Tischen steht Erdbeerkuchen vom Blech. In Thermoskannen dampft der Filterkaffee. Nimmt man die Haushaltslage, würde es eigentlich auch für eine richtige Sause langen, vielleicht für ein Schnäpschen und ein Stück Schwarzwälder Kirsch. Aber eigentlich sehen die schwäbischen Senioren nicht so aus, als hielten sie das für angemessen. Kessing sowieso nicht.
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