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Bietigheim-BissingenSchlank in fetten Jahren

Jürgen Kessing hat Erfahrung mit dem Überfluss. Seine Stadt Bietigheim-Bissingen ist schon lange reich - und schuldenfrei.

Enzviadukt in Bietigheim-Bissingen Bild: dpa

BIETIGHEIM-BISSINGEN taz Die Neuverschuldung auf null drücken? Bis spätestens 2011? Jürgen Kessing zieht die Augenbrauen ein wenig hoch, wenn er auf die stolze Ankündigung von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück angesprochen wird. "Dann machen wir keine neuen Schulden", stellt er klar. "Aber wir haben trotzdem noch 1,5 Billionen. Die müssen ja auch mal zurückgezahlt werden."

Kredite und Rücklagen

Schulden in Berlin: Bundesfinanzminister Peer Steinbrück hat am Mittwoch der Bundesregierung seine Haushaltspläne vorgelegt. Stolz kündigte der Sozialdemokrat an, bis spätestens 2011 die Neuverschuldung auf null drücken zu können. 2008 wolle er noch 12,9 Milliarden Euro neue Kredite aufnehmen. Die Wirtschaftslage ist wieder gut, was mehr Steuern bringen wird. Zudem wurde ja die Mehrwertsteuer erhöht. Einige Bundespolitiker fordern deshalb, dass schon früher keine neuen Schulden mehr gemacht werden. Andere, wie Arbeitsminister Franz Müntefering, halten dagegen, der Staat dürfe sich "nicht zu rabiat" entschulden. Vielmehr müsse er mehr Geld investieren.

Erspartes in Bietigheim-Bissingen: Seit 2004 ist die schwäbische Stadt schuldenfrei. Oberbürgermeister Jürgen Kessing (50, SPD) und sein Kämmerer konnten sogar 20 Millionen Euro für schlechte Zeiten zurücklegen. Das ergibt eine Pro-Kopf-Rücklage von 400 Euro. Dagegen hat jeder Deutsche etwa 1.100 Euro an kommunalen Schulden. Rechnet man noch die Schulden von Bund und Ländern hinzu, macht das eine Pro-Kopf-Verschuldung von fast 18.000 Euro.

Kessing ist Oberbürgermeister einer der reichsten Städte Deutschlands. Bietigheim-Bissingen, 42.000 Einwohner, nördlich von Stuttgart. Er hat sein Leben lang auf öffentliches Geld aufgepasst. Erst im Rechnungsprüfungsamt im pfälzischen Neustadt, dann in der Stadtkämmerei von Kaiserslautern. In Kurt Becks Mainzer Staatskanzlei, später im Rathaus von Dessau in Sachsen-Anhalt. Vielleicht kann so einer ja Auskunft geben, wie die Politiker umgehen sollen mit dem Geld. Mit all den Gewerbe-, Einkommen- und Mehrwertsteuern, die in die Kassen strömen werden, da die Wirtschaft in Deutschland ja wieder wächst und die Menschen mehr ausgeben. Was fette Jahre angeht, hat Kessing einen Erfahrungsvorsprung, der Peer Steinbrück aussehen lässt wie einen Prasser. Bietigheim-Bissingen geht es so gut, dass es seit 2004 überhaupt keine Schulden mehr hat.

Es finden sich kaum Hinweise darauf, dass diese Stadt reich ist. Vielleicht der Porsche auf dem Rathausparkplatz, der Kessings Sekretärin gehört. Oder das Kommandofahrzeug der Freiwilligen Feuerwehr, selbe Marke. Aber der Bahnhof ist ein Bau aus der Nachkriegszeit, und einen Stadtkern mit Fachwerkhäusern haben viele Orte in Schwaben. Das Stadtoberhaupt selbst macht überhaupt keinen bonzigen Eindruck. 50 Jahre alt, Vegetarier, grauer Anzug, hinten im Mercedes Kombi ein Kindersitz. Fette Jahre, so etwas würde Kessing nie sagen. Seine unbescheidenste Formulierung ist: "Es sieht nicht schlecht aus." Den Porsche Cayenne für die Feuerwehr hat sein Vorgänger angeschafft.

Aber der Vorgänger muss auch ein tüchtiger Sparer gewesen sein, denn als Kessing vor drei Jahren aus Dessau kam, da war Bietigheim-Bissingen praktisch schon raus aus der Verschuldung. Inzwischen stellt seine Stadt schon das vierte Jahr in Folge Rekorde bei den Gewerbesteuereinnahmen auf. Die drei Bäder werden gerade aus dem laufenden Haushalt schick gemacht, ohne dafür einen Cent Kredit aufzunehmen.

Warum in Bietigheim-Bissingen seit 2004 am Ende jedes Haushaltsjahres ein Plus steht, versteht man, wenn Kessing seine neue Stadt im Westen mit seiner alten im Osten vergleicht. In Dessau war er Finanzbürgermeister. Die Stadt ist nicht mal doppelt so groß, beschäftigt aber dreimal so viele städtische Angestellte. Dessau hat eine Berufsfeuerwehr, Bietigheim-Bissingen dagegen nur eine Freiwillige Feuerwehr. Im Osten leisten sie sich ein städtisches Theater mit Oper, Schauspiel und Ballett. Die Schwaben holen dagegen lieber mal das schwedische Nationalorchester in die Stadthalle, und im Rathaushof gibt es im Sommer Freilufttheater.

Erfahrungsvorsprung Ost

Das Geld bringt die Wirtschaft. Porsche hat fünf Tochterfirmen in der Stadt, der Vorstandsvorsitzende, der Kommunikations- und der Finanzchef wohnen hier. Im "Schiller" am Markt tüfteln sie ihre Strategien aus. Es gibt aber noch viele andere Firmen. Scheibenwischer, Zahnarzttechnik, Bodenbeläge, ein Auktionshaus für Briefmarken und ein großer Notebook-Taschen-Hersteller, der vor 15 Jahren als Zwei-Mann-Betrieb gestartet ist. Der Hemdenhersteller Olymp produziert zwar in Asien, aber immerhin 280 Mitarbeiter kümmern sich in Bietigheim um Design, Entwicklung und Vertrieb. Das gestreifte Hemd des Oberbürgermeisters ist natürlich von Olymp. "In Dessau hatten wir als größten Steuerzahler die Sparkasse", sagt er, "danach kamen die Stadtwerke." Es klingt nicht gehässig, sondern eher vergeblich, als sei ein Teil von ihm in der alten Stadt geblieben.

Kessing wurde 1996 nach Dessau geholt, weil sie dort einen brauchten, der sich ums Geld kümmert. Es gibt Politiker, die fesselnde Reden halten können, andere, die großartige Visionen entwickeln, und wieder andere mit einem Killerinstinkt in Machtfragen. Und es braucht welche fürs Geld. So einer ist Kessing. Er macht die Kasse. Verschwendung, Verschuldung, er spricht darüber unendlich geduldig und mit sparsamen Gesten.

In Dessau handelte er mit den städtischen Angestellten eine 35-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich aus, um die Ausgaben zu begrenzen. Er konnte die Neuverschuldung drücken. Er fischte den Handballverein aus der Pleite und wurde Vereinspräsident, obwohl er selbst als Junge lieber Leichtathletik machte und Fußball spielte.

Vielleicht hat so einer irgendwann das Gefühl, dass es genug ist mit dem Aufräumen und Retten. Kessing erzählt, er habe eine Stadt im Süden gesucht, mit einem Fluss und möglichst mit Weinanbau, weil man da mit den Leuten gut reden könne. Es sollte auch eine Stadt sein, die gut gewirtschaftet hat. Er bewarb sich in Bietigheim-Bissingen, wo früher mal Lothar Späth Bürgermeister war und die SPD noch nie eine OB-Wahl gewonnen hatte. Aber die CDU-Leute fielen gegenseitig übereinander her, und der nüchterne Kessing gefiel den Schwaben. So kam es, dass ein pfälzischer Sozi mit Osterfahrung eine der reichsten Städte Deutschlands eroberte.

Die drei Kessing-Regeln

Er fand dann noch fünf, sechs Posten, die nicht sein mussten. Seinen Chauffeur brachte er im Ordnungsamt unter, Kessing hat ja schließlich auch den Führerschein. Aber nun geht es mehr und mehr darum, was die Stadt machen soll mit ihrem Geld. Gewerbe- und Grundsteuern sind schon niedriger als im baden-württembergischen Durchschnitt. Und während in Deutschland auf einen Bürger 1.000 Euro an kommunalen Schulden kommen, hat Bietigheim-Bissingen pro Einwohner schon 400 Euro für schlechte Zeiten zurückgelegt.

Die Bürger wissen, dass Geld da ist. Kessing erzählt von einem Sportverein, der neue Umkleiden brauchte. Kosten: Einskommadrei! Millionen! Er schaut, als habe die Feuerwehr zum Porsche Cayenne noch einen Löschwagen von Ferrari beantragt. "Das war mir zu teuer." Jetzt baut der Verein die Umkleiden selbst, direkt an seine Gaststätte, da kann der den Heizkessel für die Duschen mit nutzen. 100.000 Euro vom Verein, 250.000 gibt Kessing, und dem Land haben sie 50.000 aus der Vereinsförderung rausgeleiert.

Das ist eine der Kessing-Regeln: auch in guten Zeiten schlank bleiben, ohne die Projekte abzuwürgen.

Das größte Vorhaben ist jetzt ein Kinderhaus. 100 bis 120 Kinder sollen dort betreut werden. Ganztägig und vom Babyalter bis zum zwölften Lebensjahr. Kessing will Familien in die Stadt holen, und die Unternehmer sagen ihm auch, dass sie nicht jahrelang auf Mitarbeiterinnen verzichten wollen, nur weil die Kinder bekommen haben. Das Kinderhaus wird kein Flachbau, sondern ein Mehrgeschosser: erster und zweiter Stock Kinderbetreuung, darüber Wohnungen. Durch die Mieten kommt wieder Geld rein. Regel zwei: Folgekosten so gering wie möglich halten.

Ein Ganztagsplatz für Kinder unter drei Jahren wird 300 Euro im Monat kosten. Familien mit geringem Einkommen zahlen die Hälfte. Trotzdem fragen viele, warum die Betreuung was kosten muss, wenn die Stadt doch reich ist. "Immer Richtung kostenlos", sagt Kessing. "Gerade Eltern, die alles kostenlos wollen, haben für alles Geld. Für Zigaretten, für Whopper und Handys. Bloß nicht für die Bildung ihrer Kinder. Was nichts kostet, ist auch nichts wert." Das ist Kessings dritte Regel. Wenn einmal etwas kostenlos ist, wollen alle etwas gratis.

"Die Begehrlichkeiten wachsen im Quadrat", sagt er, "mit jedem guten Jahr." Seit einigen Monaten muss er sich mit einer Bürgerinitiative rumschlagen, die für die Senkung der Gaspreise kämpft. Die Leute wissen, dass 2007 schon wieder ein gutes Jahr wird. Die Experten im Arbeitskreis Steuerschätzung haben für das Bundesfinanzministerium im Mai ihre Prognose korrigiert. Gegenüber der alten Schätzung sollen bis 2010 fast 180 Milliarden Euro mehr Geld in die öffentlichen Kassen fließen. "Wenn es kommt, wenn es kommt", beschwichtigt Kessing. Er ist Betriebswirt. Ihn wundert, dass jetzt die Minister in Berlin schon um das Geld feilschen, obwohl es noch gar nicht verdient ist.

Lieber pessimistisch sein

Kessing sagt auch das gelassen. Er kennt den Hang zu Steuergeschenken, die kurzfristigen Interessen der Politiker und ihrer Wähler. Er respektiert die große Politik trotzdem. Mit 15 Jahren hat er sich Willy Brandt an einem SPD-Stand in Ludwigshafen so lange angeschaut, bis der Kanzler ihn angesprochen hat. Mit Mitte 40 hat er es genossen, wenn in Dessau in Wahlkämpfen die großen Politiker vorbeikamen und er sie kennen lernte. Schmidt, Kohl, Weizsäcker, Gysi, Merkel, sie faszinieren ihn.

Aber um das Geld kümmert er sich. Da ist er streng. Er hat in Kaiserslautern erlebt, wie 1990 alle damit gerechnet haben, dass Opel eine Rekordsumme an Steuern zahlt. Und wie dann, als Opel es sich anders überlegte, das erwartete fette Jahr auf einmal ganz mager ausfiel. Trotz all der Firmen ist auch Bietigheim-Bissingen von Porsche abhängig. Darum ist Kessing vorsichtig. Lieber pessimistisch sein.

Er steht auf der Bühne in der Stadthalle. Er hat zu einem Seniorennachmittag eingeladen. Rentner im Sonntagsanzug, Rentnerinnen in Baumwolljacken. Als ihr OB vom neuen Kinderhaus erzählt, gucken die Senioren streng. Er erklärt, dass die Mütter heute nicht mehr die Kinderbetreuung voll übernehmen wollten oder könnten. Er kündigt an, dass im Kindergarten demnächst Musikerziehung angeboten wird. Kostenlos, ausnahmsweise. Dann verkündet er den Senioren: "Die Situation ist so, dass wir Ihnen auch diesen Nachmittag anbieten können. Kostenlos!"

Auf den Tischen steht Erdbeerkuchen vom Blech. In Thermoskannen dampft der Filterkaffee. Nimmt man die Haushaltslage, würde es eigentlich auch für eine richtige Sause langen, vielleicht für ein Schnäpschen und ein Stück Schwarzwälder Kirsch. Aber eigentlich sehen die schwäbischen Senioren nicht so aus, als hielten sie das für angemessen. Kessing sowieso nicht.

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12 Kommentare

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  • GH
    Gag Halfrunt

    hallo miteinander!

     

    bin bietigheimer, mir hat jemand den link zum artikel zugemailt.

     

    was ich nicht ganz versteh ist, auf was der text eigentlich hinaus will.

     

    gibt's da evtl von jemand ne erhellung?

    der bericht ist ne aneinanderreihung von zahlen... yupp, die sind bekannt. lange schon.

     

    hand

  • G
    gman

    Ja, in Bietigheim-Bissingen sind die Finanzen in Ordnung, und das war immer so, völlig unabhängig vom jeweiligen Oberbürgermeister.

     

    Aber auch in Bietigheim-Bissingen ist nicht alles Gold was glänzt. Die Bürger finanzieren hier mit ihrer Energierechnung manches, was eigentlich aus dem Stadtsäckel bezahlt werden müsste. "Schuldenfrei" hat auch einen Preis.

     

    Mehr dazu hier:

    http://gaspreis-bb.blogspot.com/

  • AZ
    Anke Zöckel

    Achung: Suchbild! Welche Korrekturen wurden wohl in folgendem Satz vorgenommen und wie wirken sich diese Korrekturen auf die Satzaussage aus?

     

    In Bietigheim-Bissingen nämlich hat man eine Wirtschaft, in Dessau hingegen hat man keine.

  • AZ
    Anke Zöckel

    Aha. In Bietigheim-Bissingen weiß man also nicht, wohin mit all seinen Gewerbe-, Einkommen- und Mehrwertsteuern. In Dessau hingegen ist man pleite. Und wieso im Osten alles so viel schlechter läuft als im Westen, ist gaaaanz leicht zu erklären: Dessau hat zu viele städtische Angestellte, eine Berufsfeuerwehr, ein städtisches Theater mit Oper, Schauspiel und Ballett und einen OB, der fleischlichen Genüssen nicht öffentlich abgeschworen hat. Die sparsamen Schwaben hingegen haben nur ein Sechstel der Angestellten, eine Freiwillige Feuerwehr und gern mal das schwedische Nationalorchester zu Gast. Und, ach ja: Die Schwaben haben ihren OB als Vergetarier geoutet.

     

    Mal ehrlich, Leute: Es wundert mich gar nicht, dass Ihr zwar einen riesigen Aufriss um die Einstellung Eurer unrentablen NRW-Lokalausgabe macht, aber offenbar mit keiner Silbe darüber nachdenkt, ob denn der Osten irgendwie ergiebiger sein könnte für Euch. Würde mich nicht wundern, stieße ich nächstens auf einer Eurer Seiten wieder auf die Behauptung, die Atomkraft sei allein deswegen verzichtbar, weil der Strom aus der Steckdose kommt.

     

    Die Frage, wie die Politiker umgehen sollen mit ?ihrem? Geld, stellt sich in erster Linie für solche, die welches haben. Wenn die Wirtschaft in Deutschland mittlerweile ?wieder wächst?, dann muss man leider annehmen, dass das in Bietigheim-Bissingen sehr viel deutlicher zu spüren sein wird, als in Dessau. In Bietigheim-Bissingen nämlich hat eine Wirtschaft, Dessau hingegen hat keine. Hier, nicht wahr, gibt es fünfmal Porsche (und zweimal Porsche-Führung), einen Scheibenwischer-, einen Bodenbeläge-, einen Notebook-, einen Zahnarzttechnik- und einen Oberhemden-Produzenten, ein Auktionshaus für Briefmarken und darüber hinaus gewiss auch noch den einen oder anderen bodenständigen Ein-Mann-Betrieb. Dort, leider, gibt es neben der Verwaltung (einschließlich Feuerwehr) und dem Theater (einschließlich Ballett und Oper) offenbar nur die Sparkasse und die Stadtwerke. Darauf also, dass der Aufschwung (vor allem der in in Bietigheim-Bissingen) Geld in die öffentlichen Kassen der Stadt Dessau spült (womöglich via Lastenausgleich), darf getrost noch eine Weile gewartet werden. Gut möglich, dass sich die Dessauer OB-Sekrätärin auch im nächsten Jahr wieder keinen Sportwagen wird leisten können ? es sei denn, sie erwartet Nachwuchs.

     

    Bietigheim-Bissingen mit Dessau zu vergleichen, ist einfach unfair. Dessau nämlich bezahlt seine Stadtverwaltung keineswegs aus Krediten. Für die Verwaltung zahlt überwiegend das Land. Die Kredite, an denen Dessau wie die meisten Ost-Städte kaut, stammen noch aus der wilden Nachwende-Zeit. Damals haben westdeutsche Unternehmen unter Verweis auf die ?im Westen üblichen? Marktmechanismen (?Die Infrastruktur ist das A und O!? und ?Wer heute keine Schulden hat, ist sowieso asozial!?) jede Menge überdimensionierte Kläranlagen, Erschließungsstraßen, Wohn- und Gewerbegebiete und Spaßbäder aus dem Boden gestampft, die zwar nach Aufschwung aussehen, aber allesamt nur auf Pump möglich gewesen sind. Es wurden tatsächlich eine ganze Menge fesselnde Reden gehalten im Osten. Die meisten aus Anlass der Übergabe von Fördermitteln. Manche sogar über großartige Visionen. Viele davon von Männern mit Killerinstinkt. Steuern? Hat man seinerzeit allenfalls zu Hause gezahlt.

     

    Ich verstehe Herrn Kessing sehr gut: Zehn Jahre Mangelverwaltung sind genug. Vor allem, wenn das berühmte ?Licht am Ende des Tunnels? noch in viel weiterer Entfernung zu leuchten scheint, als die eigene Rente. Flucht ist auch eine Strategie zur Problembewältigung ? zumindest für den Flüchtling. Nicht umsonst hat man an ähnlicher Stelle in der taz bereits Berichte über entschwundene Ost-Frauen und übrig gebliebene Ost-Männer gelesen. Wieso sollte ausgerechnet Herr Kessing das Risiko eingehen, öffentlich unter die ?Restposten? gezählt zu werden? Ein Image, schließlich, ist leicht ruiniert. Nein, es ist vielleicht wirklich besser, den Brunnen zuzudecken, nachdem das Kind nun einmal hineingestürzt ist. Ganz bestimmt arbeitet es ist sehr viel angenehmer in einer schuldenfreien Stadt als in einer, der das Wasser bis zum Hals steht. Rücklagen sind ein gutes Gefühl in schlechten Zeiten ? und nicht nur dann. Das Luxusproblem, lästig-unbescheidene Schnorrer abwimmeln zu müssen, ist nichts gegen das Gefühl, wieder und wieder berechtigte Hoffnungen zu enttäuschen. Wer, schließlich, soll in Dessau noch Steuern zahlen, wenn die Verwaltung nicht nur um 5 Stunden, sondern auf ein Sechstel schrumpft und das Theater ganz geschlossen wird? Die paar Chefsekretärinen, die man nicht entlassen kann, ohne den Chef zu demontieren, werden die Schulden der Stadt ganz gewiss nicht schultern.

     

    Auch in guten Zeiten sparsam wirtschaften, ohne dabei die Projekte abzuwürgen, die Folgekosten so gering wie möglich halten und vor allem: niemandem etwas schenken ? diese drei Regeln mögen helfen, auch in fetten Jahren schlank zu bleiben. Für den Osten kommen sie leider um mindestens 17 Jahre zu spät. Der Osten wird sich (wieder einmal) an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen müssen, in den er aus Unwissenheit, Kurzsichtigkeit, Ignoranz und Machtgier geraten ist. Es ist sehr viel leichter, schlank und gesund zu bleiben, als gesund zu werden ohne dabei auch noch abzumagern.

     

    Ich gönne den Bietigheim-Bissingern ihre drei Bäder von Herzen. Wenn die fleißigen Schwaben sich die leisten können, gehen sie O.K. Was ich der Stadt nicht gönne, ist das ungetrübte Wohlwollen der taz. Weil die sich nämlich, verdammt noch mal! auch und nicht zuletzt um diejenigen kümmern sollte, denen keine gebratenen Tauben ins Maul fliegen. Dass in der Vergangenheit Fehler gemacht wurden im Osten, ist wahr. Wahr ist auch, dass immer noch Fehler passieren. Zu bedenken ist allerdings, erstens, dass es kaum je die Ossis allein waren, die sich finanziell ruiniert haben ? sie wurden in jeden einzelnen Fall schlecht beraten, und zwar von Wessis, die daran nicht schlecht verdient haben. Zu bedenken ist, zweitens, dass die Lösung ererbter Struktur-Probleme mitunter mehr erfordert, als den Verzicht auf Fleisch und die Entlassung aller Schulköchinnen oder der Balletttänzer. Sollte also irgend jemand in der klugen taz-Redaktion eine zündende Idee haben, wie man die Bietigheim-Bissinger dazu überreden kann, für, sagen wir, zehn Jahre ihre lokale Wirtschaft nach Dessau zu verleihen (und inzwischen vom Ersparten zu leben), möge er sie bitte umgehend Kund geben. Ich glaube fest, es besteht im Osten ein wahnsinnig großes Interesse an derartigen Ratschlägen. Gut möglich, dass sie heute ein wenig kritischer geprüft werden als früher. Chancen auf Umsetzung aber bestehen durchaus. Mag sein, es würde das zu erwartende Interesse an klugen taz-Texten sogar für eine ?Lokalausgabe Ostdeutschland? reichen. Ich finde, es käme auf den Versuch an.

  • GH
    Gag Halfrunt

    hallo miteinander!

     

    bin bietigheimer, mir hat jemand den link zum artikel zugemailt.

     

    was ich nicht ganz versteh ist, auf was der text eigentlich hinaus will.

     

    gibt's da evtl von jemand ne erhellung?

    der bericht ist ne aneinanderreihung von zahlen... yupp, die sind bekannt. lange schon.

     

    hand

  • G
    gman

    Ja, in Bietigheim-Bissingen sind die Finanzen in Ordnung, und das war immer so, völlig unabhängig vom jeweiligen Oberbürgermeister.

     

    Aber auch in Bietigheim-Bissingen ist nicht alles Gold was glänzt. Die Bürger finanzieren hier mit ihrer Energierechnung manches, was eigentlich aus dem Stadtsäckel bezahlt werden müsste. "Schuldenfrei" hat auch einen Preis.

     

    Mehr dazu hier:

    http://gaspreis-bb.blogspot.com/

  • AZ
    Anke Zöckel

    Achung: Suchbild! Welche Korrekturen wurden wohl in folgendem Satz vorgenommen und wie wirken sich diese Korrekturen auf die Satzaussage aus?

     

    In Bietigheim-Bissingen nämlich hat man eine Wirtschaft, in Dessau hingegen hat man keine.

  • AZ
    Anke Zöckel

    Aha. In Bietigheim-Bissingen weiß man also nicht, wohin mit all seinen Gewerbe-, Einkommen- und Mehrwertsteuern. In Dessau hingegen ist man pleite. Und wieso im Osten alles so viel schlechter läuft als im Westen, ist gaaaanz leicht zu erklären: Dessau hat zu viele städtische Angestellte, eine Berufsfeuerwehr, ein städtisches Theater mit Oper, Schauspiel und Ballett und einen OB, der fleischlichen Genüssen nicht öffentlich abgeschworen hat. Die sparsamen Schwaben hingegen haben nur ein Sechstel der Angestellten, eine Freiwillige Feuerwehr und gern mal das schwedische Nationalorchester zu Gast. Und, ach ja: Die Schwaben haben ihren OB als Vergetarier geoutet.

     

    Mal ehrlich, Leute: Es wundert mich gar nicht, dass Ihr zwar einen riesigen Aufriss um die Einstellung Eurer unrentablen NRW-Lokalausgabe macht, aber offenbar mit keiner Silbe darüber nachdenkt, ob denn der Osten irgendwie ergiebiger sein könnte für Euch. Würde mich nicht wundern, stieße ich nächstens auf einer Eurer Seiten wieder auf die Behauptung, die Atomkraft sei allein deswegen verzichtbar, weil der Strom aus der Steckdose kommt.

     

    Die Frage, wie die Politiker umgehen sollen mit ?ihrem? Geld, stellt sich in erster Linie für solche, die welches haben. Wenn die Wirtschaft in Deutschland mittlerweile ?wieder wächst?, dann muss man leider annehmen, dass das in Bietigheim-Bissingen sehr viel deutlicher zu spüren sein wird, als in Dessau. In Bietigheim-Bissingen nämlich hat eine Wirtschaft, Dessau hingegen hat keine. Hier, nicht wahr, gibt es fünfmal Porsche (und zweimal Porsche-Führung), einen Scheibenwischer-, einen Bodenbeläge-, einen Notebook-, einen Zahnarzttechnik- und einen Oberhemden-Produzenten, ein Auktionshaus für Briefmarken und darüber hinaus gewiss auch noch den einen oder anderen bodenständigen Ein-Mann-Betrieb. Dort, leider, gibt es neben der Verwaltung (einschließlich Feuerwehr) und dem Theater (einschließlich Ballett und Oper) offenbar nur die Sparkasse und die Stadtwerke. Darauf also, dass der Aufschwung (vor allem der in in Bietigheim-Bissingen) Geld in die öffentlichen Kassen der Stadt Dessau spült (womöglich via Lastenausgleich), darf getrost noch eine Weile gewartet werden. Gut möglich, dass sich die Dessauer OB-Sekrätärin auch im nächsten Jahr wieder keinen Sportwagen wird leisten können ? es sei denn, sie erwartet Nachwuchs.

     

    Bietigheim-Bissingen mit Dessau zu vergleichen, ist einfach unfair. Dessau nämlich bezahlt seine Stadtverwaltung keineswegs aus Krediten. Für die Verwaltung zahlt überwiegend das Land. Die Kredite, an denen Dessau wie die meisten Ost-Städte kaut, stammen noch aus der wilden Nachwende-Zeit. Damals haben westdeutsche Unternehmen unter Verweis auf die ?im Westen üblichen? Marktmechanismen (?Die Infrastruktur ist das A und O!? und ?Wer heute keine Schulden hat, ist sowieso asozial!?) jede Menge überdimensionierte Kläranlagen, Erschließungsstraßen, Wohn- und Gewerbegebiete und Spaßbäder aus dem Boden gestampft, die zwar nach Aufschwung aussehen, aber allesamt nur auf Pump möglich gewesen sind. Es wurden tatsächlich eine ganze Menge fesselnde Reden gehalten im Osten. Die meisten aus Anlass der Übergabe von Fördermitteln. Manche sogar über großartige Visionen. Viele davon von Männern mit Killerinstinkt. Steuern? Hat man seinerzeit allenfalls zu Hause gezahlt.

     

    Ich verstehe Herrn Kessing sehr gut: Zehn Jahre Mangelverwaltung sind genug. Vor allem, wenn das berühmte ?Licht am Ende des Tunnels? noch in viel weiterer Entfernung zu leuchten scheint, als die eigene Rente. Flucht ist auch eine Strategie zur Problembewältigung ? zumindest für den Flüchtling. Nicht umsonst hat man an ähnlicher Stelle in der taz bereits Berichte über entschwundene Ost-Frauen und übrig gebliebene Ost-Männer gelesen. Wieso sollte ausgerechnet Herr Kessing das Risiko eingehen, öffentlich unter die ?Restposten? gezählt zu werden? Ein Image, schließlich, ist leicht ruiniert. Nein, es ist vielleicht wirklich besser, den Brunnen zuzudecken, nachdem das Kind nun einmal hineingestürzt ist. Ganz bestimmt arbeitet es ist sehr viel angenehmer in einer schuldenfreien Stadt als in einer, der das Wasser bis zum Hals steht. Rücklagen sind ein gutes Gefühl in schlechten Zeiten ? und nicht nur dann. Das Luxusproblem, lästig-unbescheidene Schnorrer abwimmeln zu müssen, ist nichts gegen das Gefühl, wieder und wieder berechtigte Hoffnungen zu enttäuschen. Wer, schließlich, soll in Dessau noch Steuern zahlen, wenn die Verwaltung nicht nur um 5 Stunden, sondern auf ein Sechstel schrumpft und das Theater ganz geschlossen wird? Die paar Chefsekretärinen, die man nicht entlassen kann, ohne den Chef zu demontieren, werden die Schulden der Stadt ganz gewiss nicht schultern.

     

    Auch in guten Zeiten sparsam wirtschaften, ohne dabei die Projekte abzuwürgen, die Folgekosten so gering wie möglich halten und vor allem: niemandem etwas schenken ? diese drei Regeln mögen helfen, auch in fetten Jahren schlank zu bleiben. Für den Osten kommen sie leider um mindestens 17 Jahre zu spät. Der Osten wird sich (wieder einmal) an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen müssen, in den er aus Unwissenheit, Kurzsichtigkeit, Ignoranz und Machtgier geraten ist. Es ist sehr viel leichter, schlank und gesund zu bleiben, als gesund zu werden ohne dabei auch noch abzumagern.

     

    Ich gönne den Bietigheim-Bissingern ihre drei Bäder von Herzen. Wenn die fleißigen Schwaben sich die leisten können, gehen sie O.K. Was ich der Stadt nicht gönne, ist das ungetrübte Wohlwollen der taz. Weil die sich nämlich, verdammt noch mal! auch und nicht zuletzt um diejenigen kümmern sollte, denen keine gebratenen Tauben ins Maul fliegen. Dass in der Vergangenheit Fehler gemacht wurden im Osten, ist wahr. Wahr ist auch, dass immer noch Fehler passieren. Zu bedenken ist allerdings, erstens, dass es kaum je die Ossis allein waren, die sich finanziell ruiniert haben ? sie wurden in jeden einzelnen Fall schlecht beraten, und zwar von Wessis, die daran nicht schlecht verdient haben. Zu bedenken ist, zweitens, dass die Lösung ererbter Struktur-Probleme mitunter mehr erfordert, als den Verzicht auf Fleisch und die Entlassung aller Schulköchinnen oder der Balletttänzer. Sollte also irgend jemand in der klugen taz-Redaktion eine zündende Idee haben, wie man die Bietigheim-Bissinger dazu überreden kann, für, sagen wir, zehn Jahre ihre lokale Wirtschaft nach Dessau zu verleihen (und inzwischen vom Ersparten zu leben), möge er sie bitte umgehend Kund geben. Ich glaube fest, es besteht im Osten ein wahnsinnig großes Interesse an derartigen Ratschlägen. Gut möglich, dass sie heute ein wenig kritischer geprüft werden als früher. Chancen auf Umsetzung aber bestehen durchaus. Mag sein, es würde das zu erwartende Interesse an klugen taz-Texten sogar für eine ?Lokalausgabe Ostdeutschland? reichen. Ich finde, es käme auf den Versuch an.

  • GH
    Gag Halfrunt

    hallo miteinander!

     

    bin bietigheimer, mir hat jemand den link zum artikel zugemailt.

     

    was ich nicht ganz versteh ist, auf was der text eigentlich hinaus will.

     

    gibt's da evtl von jemand ne erhellung?

    der bericht ist ne aneinanderreihung von zahlen... yupp, die sind bekannt. lange schon.

     

    hand

  • G
    gman

    Ja, in Bietigheim-Bissingen sind die Finanzen in Ordnung, und das war immer so, völlig unabhängig vom jeweiligen Oberbürgermeister.

     

    Aber auch in Bietigheim-Bissingen ist nicht alles Gold was glänzt. Die Bürger finanzieren hier mit ihrer Energierechnung manches, was eigentlich aus dem Stadtsäckel bezahlt werden müsste. "Schuldenfrei" hat auch einen Preis.

     

    Mehr dazu hier:

    http://gaspreis-bb.blogspot.com/

  • AZ
    Anke Zöckel

    Achung: Suchbild! Welche Korrekturen wurden wohl in folgendem Satz vorgenommen und wie wirken sich diese Korrekturen auf die Satzaussage aus?

     

    In Bietigheim-Bissingen nämlich hat man eine Wirtschaft, in Dessau hingegen hat man keine.

  • AZ
    Anke Zöckel

    Aha. In Bietigheim-Bissingen weiß man also nicht, wohin mit all seinen Gewerbe-, Einkommen- und Mehrwertsteuern. In Dessau hingegen ist man pleite. Und wieso im Osten alles so viel schlechter läuft als im Westen, ist gaaaanz leicht zu erklären: Dessau hat zu viele städtische Angestellte, eine Berufsfeuerwehr, ein städtisches Theater mit Oper, Schauspiel und Ballett und einen OB, der fleischlichen Genüssen nicht öffentlich abgeschworen hat. Die sparsamen Schwaben hingegen haben nur ein Sechstel der Angestellten, eine Freiwillige Feuerwehr und gern mal das schwedische Nationalorchester zu Gast. Und, ach ja: Die Schwaben haben ihren OB als Vergetarier geoutet.

     

    Mal ehrlich, Leute: Es wundert mich gar nicht, dass Ihr zwar einen riesigen Aufriss um die Einstellung Eurer unrentablen NRW-Lokalausgabe macht, aber offenbar mit keiner Silbe darüber nachdenkt, ob denn der Osten irgendwie ergiebiger sein könnte für Euch. Würde mich nicht wundern, stieße ich nächstens auf einer Eurer Seiten wieder auf die Behauptung, die Atomkraft sei allein deswegen verzichtbar, weil der Strom aus der Steckdose kommt.

     

    Die Frage, wie die Politiker umgehen sollen mit ?ihrem? Geld, stellt sich in erster Linie für solche, die welches haben. Wenn die Wirtschaft in Deutschland mittlerweile ?wieder wächst?, dann muss man leider annehmen, dass das in Bietigheim-Bissingen sehr viel deutlicher zu spüren sein wird, als in Dessau. In Bietigheim-Bissingen nämlich hat eine Wirtschaft, Dessau hingegen hat keine. Hier, nicht wahr, gibt es fünfmal Porsche (und zweimal Porsche-Führung), einen Scheibenwischer-, einen Bodenbeläge-, einen Notebook-, einen Zahnarzttechnik- und einen Oberhemden-Produzenten, ein Auktionshaus für Briefmarken und darüber hinaus gewiss auch noch den einen oder anderen bodenständigen Ein-Mann-Betrieb. Dort, leider, gibt es neben der Verwaltung (einschließlich Feuerwehr) und dem Theater (einschließlich Ballett und Oper) offenbar nur die Sparkasse und die Stadtwerke. Darauf also, dass der Aufschwung (vor allem der in in Bietigheim-Bissingen) Geld in die öffentlichen Kassen der Stadt Dessau spült (womöglich via Lastenausgleich), darf getrost noch eine Weile gewartet werden. Gut möglich, dass sich die Dessauer OB-Sekrätärin auch im nächsten Jahr wieder keinen Sportwagen wird leisten können ? es sei denn, sie erwartet Nachwuchs.

     

    Bietigheim-Bissingen mit Dessau zu vergleichen, ist einfach unfair. Dessau nämlich bezahlt seine Stadtverwaltung keineswegs aus Krediten. Für die Verwaltung zahlt überwiegend das Land. Die Kredite, an denen Dessau wie die meisten Ost-Städte kaut, stammen noch aus der wilden Nachwende-Zeit. Damals haben westdeutsche Unternehmen unter Verweis auf die ?im Westen üblichen? Marktmechanismen (?Die Infrastruktur ist das A und O!? und ?Wer heute keine Schulden hat, ist sowieso asozial!?) jede Menge überdimensionierte Kläranlagen, Erschließungsstraßen, Wohn- und Gewerbegebiete und Spaßbäder aus dem Boden gestampft, die zwar nach Aufschwung aussehen, aber allesamt nur auf Pump möglich gewesen sind. Es wurden tatsächlich eine ganze Menge fesselnde Reden gehalten im Osten. Die meisten aus Anlass der Übergabe von Fördermitteln. Manche sogar über großartige Visionen. Viele davon von Männern mit Killerinstinkt. Steuern? Hat man seinerzeit allenfalls zu Hause gezahlt.

     

    Ich verstehe Herrn Kessing sehr gut: Zehn Jahre Mangelverwaltung sind genug. Vor allem, wenn das berühmte ?Licht am Ende des Tunnels? noch in viel weiterer Entfernung zu leuchten scheint, als die eigene Rente. Flucht ist auch eine Strategie zur Problembewältigung ? zumindest für den Flüchtling. Nicht umsonst hat man an ähnlicher Stelle in der taz bereits Berichte über entschwundene Ost-Frauen und übrig gebliebene Ost-Männer gelesen. Wieso sollte ausgerechnet Herr Kessing das Risiko eingehen, öffentlich unter die ?Restposten? gezählt zu werden? Ein Image, schließlich, ist leicht ruiniert. Nein, es ist vielleicht wirklich besser, den Brunnen zuzudecken, nachdem das Kind nun einmal hineingestürzt ist. Ganz bestimmt arbeitet es ist sehr viel angenehmer in einer schuldenfreien Stadt als in einer, der das Wasser bis zum Hals steht. Rücklagen sind ein gutes Gefühl in schlechten Zeiten ? und nicht nur dann. Das Luxusproblem, lästig-unbescheidene Schnorrer abwimmeln zu müssen, ist nichts gegen das Gefühl, wieder und wieder berechtigte Hoffnungen zu enttäuschen. Wer, schließlich, soll in Dessau noch Steuern zahlen, wenn die Verwaltung nicht nur um 5 Stunden, sondern auf ein Sechstel schrumpft und das Theater ganz geschlossen wird? Die paar Chefsekretärinen, die man nicht entlassen kann, ohne den Chef zu demontieren, werden die Schulden der Stadt ganz gewiss nicht schultern.

     

    Auch in guten Zeiten sparsam wirtschaften, ohne dabei die Projekte abzuwürgen, die Folgekosten so gering wie möglich halten und vor allem: niemandem etwas schenken ? diese drei Regeln mögen helfen, auch in fetten Jahren schlank zu bleiben. Für den Osten kommen sie leider um mindestens 17 Jahre zu spät. Der Osten wird sich (wieder einmal) an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen müssen, in den er aus Unwissenheit, Kurzsichtigkeit, Ignoranz und Machtgier geraten ist. Es ist sehr viel leichter, schlank und gesund zu bleiben, als gesund zu werden ohne dabei auch noch abzumagern.

     

    Ich gönne den Bietigheim-Bissingern ihre drei Bäder von Herzen. Wenn die fleißigen Schwaben sich die leisten können, gehen sie O.K. Was ich der Stadt nicht gönne, ist das ungetrübte Wohlwollen der taz. Weil die sich nämlich, verdammt noch mal! auch und nicht zuletzt um diejenigen kümmern sollte, denen keine gebratenen Tauben ins Maul fliegen. Dass in der Vergangenheit Fehler gemacht wurden im Osten, ist wahr. Wahr ist auch, dass immer noch Fehler passieren. Zu bedenken ist allerdings, erstens, dass es kaum je die Ossis allein waren, die sich finanziell ruiniert haben ? sie wurden in jeden einzelnen Fall schlecht beraten, und zwar von Wessis, die daran nicht schlecht verdient haben. Zu bedenken ist, zweitens, dass die Lösung ererbter Struktur-Probleme mitunter mehr erfordert, als den Verzicht auf Fleisch und die Entlassung aller Schulköchinnen oder der Balletttänzer. Sollte also irgend jemand in der klugen taz-Redaktion eine zündende Idee haben, wie man die Bietigheim-Bissinger dazu überreden kann, für, sagen wir, zehn Jahre ihre lokale Wirtschaft nach Dessau zu verleihen (und inzwischen vom Ersparten zu leben), möge er sie bitte umgehend Kund geben. Ich glaube fest, es besteht im Osten ein wahnsinnig großes Interesse an derartigen Ratschlägen. Gut möglich, dass sie heute ein wenig kritischer geprüft werden als früher. Chancen auf Umsetzung aber bestehen durchaus. Mag sein, es würde das zu erwartende Interesse an klugen taz-Texten sogar für eine ?Lokalausgabe Ostdeutschland? reichen. Ich finde, es käme auf den Versuch an.