Türkei: Die Sorgenfalten des Tayyip Erdogan
Viele sehen in den türkischen Wahlen eine Richtungsentscheidung zwischen Islamisten und säularen Kräften. Doch der Urnengang könnte auch mit einem Patt enden.
In der Türkei wird alle fünf Jahre ein neues Parlament gewählt. Instabile Regierungskoalitionen führen häufig zu Neuwahlen vor Ablauf der vollen Legislaturperiode. Eine hohe Zehnprozenthürde soll parlamentarische Zersplitterung vermeiden. Um die Gunst der 42,5 Millionen Wahlberechtigten werben am Sonntag 14 Parteien und 7.395 Kandidaten - darunter eine Rekordzahl von 700 "unabhängigen" Kandidaten. Die meisten werden von der Kurdenpartei DTP unterstützt, die damit den Einzug ins Parlament schaffen will.
ISTANBUL taz Je näher der Wahltag am kommenden Sonntag rückt, umso tiefer werden die Ringe unter den Augen von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Jeden Tag bis zu drei große Auftritte zehren an den Kräften, hinzu kommt eine große Ungewissheit, was die Wahl bringen wird. Obwohl sich seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) sehr optimistisch gibt, erklärte Erdogan vor wenigen Tagen überraschend, er werde sich aus der Politik zurückziehen, falls seine Partei die absolute Mehrheit der Mandate im neuen Parlament verpassen sollte. "Der ist sich seines Sieges offenbar doch nicht so sicher", kommentiert der Zeitungshändler an der Ecke, offenbar ein AKP-Gegner, "sonst würde er doch nicht zu solchen Mitteln greifen, um noch den letzten Anhänger zu mobilisieren."
Tatsächlich schwanken die Umfrageergebnisse auch unmittelbar vor der Wahl immer noch erheblich. Je nach Institut werden für die AKP zwischen 30 und 42 Prozent gezählt. Entscheidender aber ist, wie viele Parteien im Parlament vertreten sein werden. Dass die AKP im letzten Parlament fast zwei Drittel der Sitze hatte, obwohl sie nur 34 Prozent der Wählerstimmen gewinnen konnte, lag ja daran, dass außer der AKP und der linksnationalistischen, kemalistischen CHP sämtliche Parteien an der Zehnprozenthürde gescheitert waren. Somit war fast die Hälfte der Stimmen nicht im Parlament vertreten, stattdessen wurden die Mandate auf AKP und CHP verteilt. Damit ist jedoch jetzt nicht zu rechnen. Nach allen Umfrageergebnissen wird wohl zumindest die rechtsradikale MHP noch den Sprung ins Parlament schaffen. Auch bis zu 35 Unabhängigen wird dies zugetraut, da für sie nicht die landesweite Zehnprozenthürde gilt.
Alle auf den Beinen
Erdogan und seine aus dem politischen Islam kommende AKP kämpfen in diesen Tagen jedoch nicht nur um eine Erneuerung ihres Regierungsauftrags, sondern ein wenig auch um die Zukunft ihrer Partei selbst.
Als Erdogan im Frühjahr gegen den erbitterten Widerstand der Opposition, des Militärs und der Justiz in Form des Verfassungsgerichts versuchte, seinen Stellvertreter, den Außenminister Abdullah Gül zum Staatspräsidenten wählen zu lassen, geriet die Türkei in eine politische Krise. Die vorzeitigen Neuwahlen sollen eine Lösung bringen.
Doch das Land ist tief gespalten. Der Drohung der Militärs, die Ende April anlässlich der Präsidentenwahl auf ihrer Website angekündigt hatten, eine weitere Islamisierung der Türkei nicht tatenlos hinzunehmen, will die AKP einen möglichst überwältigenden Wahlsieg entgegensetzen. Die Opposition mobilisiert ihre Anhänger inzwischen mit dem Argument, dass es um nicht weniger gehe als darum, die laizistische Republik zu verteidigen.
Entsprechend gereizt ist die Stimmung. Das Land ist in zwei Lager gespalten, und alle sind auf den Beinen. Nach den Großdemonstrationen der Laizisten im Frühjahr hat die AKP am vergangenen Sonntag mehrere hunderttausend Anhänger in Istanbul versammelt. Dort präsentierte sie ihre neuen Kandidaten, unter denen auch mehrere Frauen sind. Erdogan hat bei der Aufstellung der Kandidatenliste dieses Mal darauf geachtet, nicht allzu viele Leute aus der alten, streng islamistischen Milli-Görüs-Bewegung zu nominieren. Stattdessen finden sich auf den Listen der AKP Wirtschaftsliberale, ein paar Aleviten und sogar einige ehemalige Sozialdemokraten.
Fast eine Volksfront
Der bekannteste Wirtschaftsliberale ist Mehmet Simsek, ein führender Investmentbanker von Merril Lynch, den Erdogan aus New York holte und der nun in der aufstrebenden Geschäftsstadt Gaziantep im Südosten der Türkei mit Basarhändlern über die Tücken der Mikroökonomie diskutieren muss. Es sei durchaus lehrreich für ihn, die ökonomischen Probleme mal an der Basis kennen zu lernen, verriet er im Interview.
Das Auffälligste auf der Liste der AKP sind aber die weiblichen Kandidaten, vorzugsweise Akademikerinnen, ausnahmslos ohne Kopftuch. Selbst eine linke Anwältin ist dabei. Doch die Parteibasis kann mit solchen Leuten wenig anfangen. Zwischen dem Publikum bei der Großveranstaltung am letzten Sonntag und den Kandidatinnen auf der Bühne lagen Welten. Als sie sich vorstellten, rührte sich kaum eine Hand zur Beifallsbekundung.
Außer den beiden Blöcken, islamische AKP auf der einen Seite, linke und rechte Nationalisten auf der anderen Seite, gibt es Wähler, die sich in dieser Konfrontation nicht wiederfinden und sich von keiner der beiden Seiten repräsentiert fühlen. Das sind insbesondere viele Kurden, die bei diesen Wahlen mit unabhängigen Kandidaten antreten und Chancen haben, bis zu 25 Mandate zu gewinnen.
Auch für die gebildeten, einen westlichen Lebensstil pflegende Liberalen und Linken, die die AKP zwar aus gesellschaftspolitischen Gründen ablehnen, aber auch die rückwärtsgewandte laizistische, kemalistische Opposition nicht als kleineres Übel erachten, gibt es Alternativen. Die aussichtsreichsten unter ihnen sind die beiden unabhängigen Kandidaten, die in Istanbul antreten. Sollten ihnen der Einzug ins Parlament gelingen, könnten sie so etwas wie die Vorhut einer neuen politischen Bewegung bilden. Dafür brauchen sie nur ein paar Prozentpunkte.
Angesichts der enormen Mobilisierung wird trotz des Wahltermins mitten in den Sommerferien mit einer sehr hohen Wahlbeteiligung gerechnet. Die Hotelbesitzer klagen über freie Betten und leere Strände. Viele haben ihren Urlaub verschoben, jeder will seine Stimme für die Zukunft des Landes abgeben. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass die Wahl im Patt endet, ist groß. Ist das neue Parlament wieder nicht in der Lage, binnen vier Wochen einen neuen Staatspräsidenten zu wählen, wird es voraussichtlich Ende September wieder aufgelöst. Hinzu kommt, dass die Putschdrohung des Militärs keineswegs gebannt ist. Kein Wunder, dass Erdogans Sorgenfalten immer tiefer werden. Die Turbulenzen werden nach dieser Wahl sicher nicht beendet sein.
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