Griechische Presse: "Die Wut wird einen Wandel bewirken"
Kommentatoren sind sich einig: Die schlimmsten Auswirkungen der Brandkatastrophe hätten verhindert werden können.
Die liberale griechische Tageszeitung To Vima kommentiert:
Die Ausrede lautet wie immer: Schuld sind die Brandstifter - die ja auch Terroristen sein können und warum nicht auch die Feinde unserer Nation. [] Aber könnte es nicht sein, dass der größte und offensichtlichste Brandstifter die bei uns herrschende kollektive Desorganisation ist? All die willkürlichen Gesetze, das berüchtigte System, in dem die Konkurrenz der "vielen Platzhirsche" jeden reformerischen Aufbruch hemmt? [] Wenn wir so etwas schon bei den Waldbränden des Sommers erleben, kann man sich ausdenken, wie alles laufen würde, wenn wir es mit einem bewaffneten internationalen Konflikt zu tun hätten.
Wir hatten einmal ein schönes Vaterland. Das geht jetzt verloren, immer schneller - mit all den Waldbränden, aber auch mit den überfüllten Müllhalden, den illegalen Häusern, all dem Zement. SOS! RICHARDOS SOMERITIS
Der Kommentator der Tageszeitung Kathimerini schreibt:
Heute sagen mir Freunde, deren politische Präferenzen ich lange kenne, dass sie bei der Wahl einen leeren Stimmzettel abgeben werden. Die Umwelt, um die sich bis vor einigen Jahren nur ein paar Radikale und Exzentriker gekümmert haben, ist auf einmal eine brennende Frage, die unseren Alltag, aber auch die politische Agenda bestimmt. Menschen, die ihr ganzes Leben lang unpolitisch waren, erklären auf einmal, man müsse doch "etwas tun" []
Ob diese Tragödie den Wahlausgang beeinflussen wird, lässt sich kaum sagen. Ganz sicher bin ich mir im Augenblick nur in zwei Punkten:
Erstens wird jeder Politiker, der diese Tragöde für parteipolitische Zwecke ausbeuten will, ein derart unsensibles Verhalten teuer bezahlen. Zweitens wird die Wut und Empörung, die sich in diesem Sommer aufstaut, zweifellos einen Wandel bewirken.
Ich weiß nicht, ob das für das Land unbedingt gut sein wird, denn blanke Wut führt häufig zu riskantem Verhalten und Abenteuern. Sicher ist aber, dass die herrschende Klasse es sich nicht leisten kann, diese Entwicklung zu ignorieren.
ALEXIS PAPCHÉLAS
Und die Ta Nea schreibt:
Unter dem Eindruck dieses Schocks, in unserer Scham und unserer Trauer, regt sich die Bereitschaft, alles von Grund auf neu zu durchdenken: unsere Beziehung zur Umwelt, unsere Lebensweise und unser Konsummodell, das die Grenzen unserer Reproduktion in globalem Maßstab untergräbt; die offensichtlichen Grenzen einer "griechischen" Lebensart, die zugleich privaten Reichtum und öffentliche Armut maximiert. Aber auch das Politikmodell, das seit 2004 vorherrscht und die Quintessenz der Karamanlis-Philosophie ausmacht: ein Modell, das die "öffentliche Hand" von allen Aufgaben und Verpflichtungen entlastet. Wir müssen wieder die Solidarität als fundamentalen Wert anerkennen, nicht nur das Konkurrenzprinzip. []
Doch ehe wir überlegen, wie das umgesetzt werden kann, müssen wir bereit sein, alle "Verschwörungstheorien" zu entsorgen. Aufhören, irgendwelche "systematischen Pläne" zu sehen, einen "Angriff auf Griechenland", den unbekannte Feinde - Türken, Japaner, Anarchisten - gegen uns führen. Wir müssen den Gedanken zulassen, dass an den Ereignissen dieser Tage die kriminellen Unterlassungen unserer staatlichen Organe schuld sind. Und unsere eigene Gleichgültigkeit.
Übersetzung: Niels Kadritzke
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