Lehrstellen: Azubis werden neu vermessen

Die IHK vermeldet einen Lehrstellenrekord - und reizt mit dem Eigenlob die Gewerkschaften. Denn laut DGB fehlen 23.000 Ausbildungsplätze. Experten fordern bessere Förderung für schlechte Schüler.

Das Beweisfoto: Mindestesn eine Lehrstelle für Tischler ist vorhanden Bild: AP

Die Berliner Unternehmen bilden wieder mehr junge Menschen aus. Mehr als 13.000 Lehrstellen soll es in diesem Jahr geben, verkündet die Industrie- und Handelskammer (IHK) Berlin. Damit werde man sogar dem Rekord des Ausbildungsjahres 1999 knapp übertrumpfen, freut sich IHK-Sprecher Holger Lunau. Bis Anfang September waren allerdings erst 8.124 Ausbildungsverträge unterschrieben. Abgerechnet wird Ende des Jahres.

Doch nicht alle teilen diese Euphorie: Bildungsexperten und Gewerkschaften bemängeln die Situation für Schulabgänger. Als "dramatisch" schätzt sie etwa Dieter Pienkny, Sprecher des Berliner DGB, ein. "Nach unseren Berechnungen fehlen mehr als 23.000 Ausbildungsplätze", sagte er der taz. Ein Grund für die schlechte Bilanz seien die Kandidaten des Vorjahres, die sich nun erneut erfolglos beworben haben. Laut Pienkny sei die Dunkelziffer sogar noch höher, da viele Bewerber etwa durch Qualifizierungsmaßnahmen aus der Statistik fielen. Deswegen existieren auch kaum verlässliche Zahlen, wie viele Menschen überhaupt einen Ausbildungsplatz suchen.

Pienkny kritisiert zudem, dass weiter bei vielen Betrieben der Wille fehle, eine Ausbildung anzubieten: "Nur jeder vierte bis fünfte Betrieb, der dies könnte, bildet auch Nachwuchs aus."

Für Gerd Woweries, den IHK-Leiter für gewerblich-technische Berufe, liegt die Problematik ganz woanders: Viele Schulabgänger seien nicht ausreichend qualifiziert. Laut einer IHK-Umfrage unter 100 Ausbildungsbetrieben bemängelte jeder zweite die schlechten Mathe- und Deutschkenntnisse.

Experten scheint die Argumentation beider Seiten nicht gänzlich zu überzeugen. "Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Man muss bei diesen Rechenbeispielen immer genau hinschauen", sagt Jürgen van Buer, Professor für Wirtschaftspädagogik an der Humboldt-Universität. Für ihn ist entscheidend, wie Schulabgänger mit schlechtem Abschluss besser gefördert werden. Diese "Risikolerner" müssten die erforderlichen Kenntnisse schulisch nachvermittelt bekommen, etwa durch die Einstiegsqualifizierung für Jugendliche (EQJ). Dabei absolviert ein Bewerber ein Jahr lang ein betriebliches Praktikum und erwirbt zudem schulische Kenntnisse. Nahezu jeder zweite EQJ-Praktikant schafft es schließlich, in ein reguläres Ausbildungsverhältnis übernommen zu werden. Auch die IHK glaubt, das EQJ-Praktikum sei eine sinnvolle Maßnahme, um den Bewerbern Qualifizierungsangebote zu machen.

DGB-Mann Pienkny winkt hingegen ab: "Die Arbeitgeber wollen uns Sand in die Augen streuen. Wenn die Betreibe etwas tun wollen, sollen sie Ausbildungsverbände gründen, um allen jungen Menschen eine Ausbildung zu ermöglichen."

Wie weit es bis dahin ist, beschreibt Volker Gand. Er ist Schulleiter des Kreuzberger Oberstufenzentrums (OSZ) I mit 1.800 Schülern, eine Berufsschule, die auch für EQJ-Praktikanten zuständig ist. "Wir können den unterschiedlichen Wissenstand unserer Schüler kaum ausgleichen. Das ist ein Problem der allgemeinbildenden Schulen." Gand erklärt, dass die OSZ viele Schüler betreuten, die statt einer Lehrstelle ein weiteres Jahr die Schulbank drückten. "Jemand, der sich über 100-mal erfolglos beworben hat, geht mit einer dementsprechenden Motivation in Weiterbildungsmaßnahmen wie EQJ. Genügend Ausbildungsplätze sehe ich nicht", moniert der Schulleiter.

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