Debatte: Liebesentzug und Langeweile

Einst war Deutschland ein attraktives Land, das mit seinen Gastarbeitern eine fröhliche Interessengemeinschaft bildete. Heute geht der Debatte um die Migration jegliche Erotik ab.

Die Integrationsexperten der deutschen Öffentlichkeit sind Liebesbanausen. Deshalb geht den deutschen Debatten um die Migration jegliche Erotik ab. Das ist nicht nur aus genießerischer, lebens- und lustbejahender Sicht schade, sondern auch ein existenzielles gesellschaftspolitisches Manko. Denn ohne Sinnlichkeit machen Integrationsbemühungen keinen Sinn. Ein Land, in das man einwandert, muss man lieben können, aber nicht lieben müssen. Umgekehrt sollte die Aufnahmegesellschaft nicht nur aufnahmebereit sein, sondern sich bei dem Gedanken, dass ein anderer diese Aufnahme begehrt, attraktiv fühlen.

Erst wenn das Balzverhalten stimmt, kommt es zu nennenswerten Integrationsbemühungen. Die Deutschen aber fühlen sich nicht sexy. Sie sind viel zu komplexbeladen und mit den eigenen Schönheitsfehlern beschäftigt, um sich schön zu fühlen. Fehlt einem selbst das Sexappeal, so wird der andere unerreichbar. Oder aber man findet den anderen unattraktiv, um jene Situation erst gar nicht entstehen zu lassen, wo man intim werden muss. Sexy Zuwanderer kommen selten nach Deutschland. Die aber, die schon da sind, findet man wenig anziehend. Man möchte ihnen auch gar nicht glauben, dass sie Deutschland sexy finden.

Das war einmal anders. Als in den Sechziger- und Siebzigerjahren die Gastarbeiter ins Land strömten, war Deutschland das attraktivste Land in Europa. Harte Arbeit gegen D-Mark, dieses Verhältnis funktionierte gut. So entstand eine Interessengemeinschaft, an die sich heute kaum einer der Integrationsexperten erinnert. Der Gastarbeiter ist out. Es gibt zu wenig Stellen für Unqualifizierte. Deutschland hat einen postindustriellen Kater.

Der Gastarbeiter heißt jetzt Zuwanderer. Auch wer hier geboren, ist heißt Zuwanderer. Auch die Kinder der hier geborenen heißen Zuwanderer. Der neue Deutsche ist ein Zuwanderer. Und der Zuwanderer ist ein Problem. Also hat Deutschland ein Problem, ein großes Problem. Wer aber findet einen problematischen Lebenspartner anziehend? Eine Lebensgemeinschaft, in der sich die Partner erst einmal behandeln lassen müssen, ist eine Totgeburt. Man geht in eine Lebensgemeinschaft, weil man einen Partner anziehend findet. Alles andere fällt unter die Kategorie arrangierte Ehe oder gar Zwangsheirat.

Dabei ist Deutschland nach wie vor ein attraktives Land. Wer sich eine beschränkte Zeit hier aufhält, ist meistens begeistert. Nach wie vor gut organisiert, hoher technischer Stand, gute Infrastruktur, kostengünstig im Vergleich zu den meisten Ländern der westlichen Hemisphäre, hochsubventionierte Kulturpaläste, großartige Musiker, lebendige Kunstszene, leistungsfähige Forschung.

Die Deutschen lieben ihre Gäste. Da werden sogar Exoten oder Farbige in Ruhe gelassen oder freundlich angelächelt. Das Problem ist, dass wir in chaotischen Zeiten leben, in denen man Gäste von dauerhaft Ansässigen nicht unterscheiden kann. Es gibt keinen Gesichtsausdruck, der den Aufenthaltsstatus anzeigt. Also braucht man eine Behörde, ein Ministerium, eine ganze Schar von Integrationsexperten, die das alles mühsam auseinanderhalten und erklären. Natürlich birgt ein solches Unternehmen Risiken in sich, ein Scheitern ist durchaus drin. So ist auch der Spruch: "Die Integration ist gescheitert" sehr beliebt. Unklar bleibt dabei, ob die Experten gescheitert sind oder die Lebensgemeinschaft, also die beteiligten Partner, oder alle zusammen.

Offensichtlich jedoch hat die ganze Angelegenheit mit Liebe wenig zu tun. Schade, denn damit fehlt der Schlüssel für eine gelungene Integration. Vielleicht fehlt sogar der Glaube an die Liebe an sich. Das hat nicht so sehr mit der oft zitierten skeptischen Haltung der Deutschen zu tun, viel aber mit einem tief sitzenden Irrglauben, dass Patriotismus, also Liebe zum Vaterland mit der Herkunft zu tun hat.

Als Vaterland ist Deutschland für einen Türken so weit entfernt wie Grönland. Er würde es sowieso anders nennen, nämlich Mutterland. Und ein Mutterland wollte Deutschland nie sein. Vielleicht aber reicht es ja auch, wenn ein Land weder einen Vater noch eine Mutter ersetzen muss, sondern einfach ein Land ist.

Ja, reicht das wirklich? Hat ein Land nicht auch eine Geschichte, folgt das Leben in einem Land nicht nach Regeln, die über Jahrhunderte mühsam aufgestellt worden sind? Das Land will geachtet sein, die Zuwanderer wollen Zuneigung. Deutschland aber braucht auch viel Liebe. Der Liebesentzug nagt schwer an diesem Land. Der Liebesentzug ist aber nur eine Folge der Liebesunfähigkeit.

Wer sich hier trotzdem wohl fühlt, hat ein Problem. Ihm wird vorgehalten, kein Problembewusstsein zu haben, die Augen zu verschließen vor all dem Schrecklichen, was um ihn herum passiert. Die Migration ist inzwischen ein Thema, das alle sozialen Probleme, die es in einer Gesellschaft geben kann, absorbiert. Sie wird immer mehr zur Mutter aller Probleme. Wer beispielsweise Menschenrechte nicht achtet und in einer demokratischen Gesellschaft nicht zu Hause ist, fordert den Rechtsstaat heraus, unabhängig von seiner ethnischen Herkunft und seinem Glauben.

Ethnische Vielfalt bringt auch unterschiedliche Mentalitäten mit sich. Das ist eigentlich keine schlechte Nachricht. Denn nur ein Land, in dem Mentalitätsunterschiede sich aneinander reiben, bleibt in Bewegung. Über diese Mentalitätsunterschiede und wie man sie produktiv nutzen kann, spricht aber kaum einer der Integrationsexperten. Denn das Expertentum lebt nicht von Menschenkenntnis, und von Psychologie wird es auch nicht genährt. Es lebt von Begriffen, die es selbst geschaffen hat: Parallelgesellschaft etwa. So ein Begriff erklärt nichts, provoziert keine Denkregung. Er ist ein Kopfnick-Begriff. Ja, so ist es. Endlich sagt es einer mal. Man fühlt sich bestätigt. Ein gegenseitiges Schulterklopfen macht die Runde. Da hat man das wohlige, mollig warme Gefühl, zu Hause geblieben zu sein.

Vielleicht ist dieses imaginäre Zuhause ein Ersatz für die fehlende Liebe. Und manchmal ist es sogar liebenswert. In letzter Konsequenz erhebt es den Heimatfilm der Fünfzigerjahre zur Integrationsrichtlinie. Die Debatte auf diesem Sprach- und Denkniveau produziert Spießer am laufenden Band, und das Schlimmste ist, dass sie sich alle auf die Aufklärung berufen, weil die Spießer auf der anderen Seite keine Aufklärung gehabt haben.

Die Integrationsdebatte braucht dringend eine Sprachkritik. Das wäre eigentlich eine Aufgabe für Schriftsteller, die von Berufs wegen Sprachplacebos und Worthülsen schnell erkennen. Doch die verhalten sich entweder auffällig still oder werden selbst zu Integrationsexperten. Das sprachliche Scheitern jedoch deutet auf nichts anderes hin als auf die fehlende Erotik. Denn nur die Attraktion zwischen den Unterschieden entzündet Kreativität. Jenseits davon aber ist nur die Langeweile der Enthaltsamkeit.

ZAFER SENOCAK

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.