: Der verlorene Schatz des Jaegers
Er sammelte und archivierte Sprache, in all ihren gelebten Unzulänglichkeiten: der fast vergessene Heino Jaeger. Eine neue Anthologie versucht ihn aus dem Status des Geheimtipps zu befreien und zu einem gerechten Nachruhm zu verhelfen. Die Aufhebung des irdischen Jammers im sternenklaren Unsinn
VON FRANK SCHÄFER
„Ich halte ihn für den erbarmungslosesten Ohrenzeugen unserer Allerweltsgespräche …“ schwärmt der Kabarettist Hans Dieter Hüsch 1969, in seinen eigenen besten Zeiten, von einem anderen, Heino Jaeger. Man hat ihm Tonbänder mit dessen halb improvisierten, zugleich aber auch der Wirklichkeit präzise abgelauschten Stegreifgeschichten zugespielt, und Hüsch vermittelte den Kontakt zum WDR. Der zögert nicht lange und entlässt Jaegers komische Botschaft von nun an flaschenpostartig in den Äther. Bald darauf nimmt Jaeger eine erste Platte auf, „Wie das Leben so spielt“.
Ausstellungen seiner Zeichnungen und Gemälde folgen. In Berlin sorgt er mit dem „Heino Jaeger: Ein Maler des deutschen Reichs stellt in der ehemaligen Reichshauptstadt aus!“ für einigen Wirbel. Der Titel ist fast der einzige Ironiehinweis, die Bilder selbst sind kongenial ins Bild gesetzte, der entsprechenden Blubo-Ästhetik verpflichtete Adaptionen, die dann auch den herausgeforderten Verriss in der Welt zeitigen: So etwas dürfe man „der leidgeprüften Reichshauptstadt nicht antun“.
Als bildender Künstler feierte Jaeger durchaus Achtungserfolge, nachgerade religiös verehrt und jetzt als verlorenen gegangenes Vorbild wieder entdeckt werden indessen seine Sprechstücke. Mit Recht. Heino Jaeger besaß das absolute Gehör für das gesprochene Wort. Dialekte, verbale Marotten, artikulatorische Eigenheiten, die der Situation geschuldeten Zauderpausen und sich wiederholenden Platzhalter, das leidvolle Aufstöhnen der immer wieder überforderten, über ihre Verhältnisse redenden Protagonisten – Jaeger konnte das alles mimetisch exakt nachbilden bzw. aus einer wild wuchernden Lautfantasie heraus generieren.
Jaeger sammelte und archivierte Sprechsituationen, indem er das zufällig Aufgeschnappte sofort durchprobierte und sich virtuos anverwandelte, bis er den Zungenschlag, den besonderen Tonfall adäquat reproduzieren, ihn kreativ weiterspinnen konnte. Sein Material fand er überall, in der Kantine, im Café, auf volkskundlichen Exkursionen in die „kokelige“ norddeutsche Provinz oder auf den Reisen nach Frankreich, England, Dänemark, Belgien.
Joska Pintschovius, sein bester Freund, Förderer und später „amtlich bestellter Pfleger“, leitet mit seinen manchmal etwas langatmigen, aber als biografische Quelle unschätzbare Erinnerungen eine gerade bei Kein & Aber erschienene voluminöse Heino-Jaeger-Anthologie ein. Neben satirischen Kolumnen, Dramoletten, Stegreifgeschichten und einer Auswahl des grafischen Werks enthält sie auch ein ziemlich gewieftes Nachwort von Christian Meurer. Meurer gibt darin gern zu, dass ein Buch im Grunde der falsche Aggregatzustand jedenfalls des literarischen Werks ist, dass es „auf Papier, ohne die Unmittelbarkeit von Jaegers Verkörperung, an beträchtlichem Substanzverlust“ leidet. Man muss das schon hören – und kann es tun auf den ebenfalls bei Kein & Aber erschienenen CDs „Lebensberatungspraxis Dr. Jaeger“ und „Alkoholprobleme in Dänemark“. Hören, wie diese einfach nur so monologisierenden oder von einem Radioreporter bzw. jenen legendären Lebensberater Dr. Jaeger befragten Schlafwandler und Deliranten in tapfer- ohnmächtiger Verzweiflung um Ausdruck und Sprache ringen und vor allem um einen Sinn. Je mehr sie sich in ihren eigenen Syntaxschlaufen verstricken, desto betörender wird ihre Rede, desto weiter wird sie aus der logischen Umlaufbahn geworfen, auf zu neuen semantischen Galaxien, zu einem eigenen L’art-pour-l’art-Universum.
Ein Zitat kann das nur unzureichend belegen, die bloße Transkription ist eben auch schon Reduktion. Beim folgenden Stück etwa muss man sich immer die onkelhafte, volltönend-breite, allzu selbstgewisse Diktion des lange pensionierten Schauspielers hinzuimaginieren: „Ich trat nun zunächst im Kümmelhaus auf – eines, ähm, großartig angelegten Theaters mit Chansonetten, Sopranetten, vielen nicht so prophylaktischen Schauspielern – Hitler war ja an der Macht – Kommen Sie sofort nach München – Hitler ist auf der Flucht! Ich sag, das kann nicht angehen– ich reiste sofort ab nach München – und so kam es, dass ich in wenigen Tagen die Oper, Der Schlaumeyer, später in Wien – bis ein Bekannter von mir, den ich später in Paris wiedertraf, sagte, is’ ne große Schweinerei, dass dieser Hitler an der Macht ist – ich sag, ja, Gott, das ist mir bekannt – in wenigen Tagen war ich bei der BBC in London und habe dort den Dreiakter, der Baron und die fünf Ephigenien, zusammen mit Hanfstängel für das Gewandthausorchester in Linz neu inszeniert – und so kam das alles.“
Die Komik ist reine Artistik, sprachliche Elevation, die Aufhebung des irdischen Jammers im sternenklaren Unsinn. Dabei sind Jaegers Wiedergänger ja recht eigentlich angetreten, um als Spezialisten ganz weltlich von ihrer Profession zu berichten, ob als Textil- oder Keksfabrikanten, als politische Kommentatoren, Botaniker, Zeitzeugen, Film- oder Literaturkritiker etc. Seine Sujets holt er sich nämlich in erster Linie bei den Schul-, Kultur- und Bildungsprogrammen – und noch seine Darbietungsformen, das Interview, die Reportage, den Kommentar, bezieht er daher. Und es ist der Kontrast aus dieser besonderen Kommunikationssituation, in der abgewogen, sachgemäß, mit dem entsprechenden Fachjargon nur die Fakten verhandelt werden, und einem dabei wie zufällig aufblitzenden, durch Wortverdrehungen, falschen Fremdwortgebrauch und Neologismen angetriebenen Irr- und Aberwitz, der einen großen Teil des komischen Mehrwerts dieser Piecen ausmacht.
Das hat gelegentlich zu Missverständnissen geführt, wenn ein auf Rambazamba eingestelltes, dreiviertel-lobotomiertes Stimmungspublikum es einfach nicht abrallen wollte, und Jaeger, dieser Bühnensouverän, ihnen die Minuten vorzählte, die es noch auszuhalten habe. Jaeger war ein originärer Punk, der zwar mit seinen Künstlerfreunden einem ästhetischen Konservativismus frönte, aber wenn es einen gemeinsamen Nenner seiner Arbeit gibt, dann ist das ihr anarchischer, formsprengender Impuls. Und das scheint bei ihm keine bloß artifizielle Geste, sondern existenziell verantwortet zu sein.
Heino Jaeger hatte als Siebenjähriger die Bombenangriffe auf Hamburg und Dresden miterlebt und mehr gesehen, als man sehen sollte, um den Rest des Lebens noch gut schlafen zu können. Dass auch eine so totale Ordnung wie das Nazi-Regime – für ein Kind ja wirklich: – plötzlich in Flammen aufgehen kann, muss ein erkenntnisleitender Schock gewesen sein, der sich späterhin zu einem universellen Schema, zu einem Paradigma verdichtet hat: Diese Welt, auch wenn sie sich noch so sehr um Ordnung und Organisation und Respektabilität bemüht, ist doch immer nur ein chaotischer Eiertanz. Dieses Seinsprinzip musste er nun fast schon zwanghaft darstellen und so der Lächerlichkeit preisgeben, denn im Lachen über das Unvermeidliche steckt ein letzter Rest von Beherrschbarkeit, nur ein kleiner Trost, aber immerhin.
Mitte der Siebzigerjahre erlebte Jaeger den Höhepunkt seines Ruhms. Neben dem WDR produzierte nun auch der saarländische Rundfunk regelmäßig Hörstücke mit ihm, „Dr. Jaeger antwortet“. Er trat im Fernsehen auf, in Hamburger Szenelokalen, ausgerechnet Knut Kiesewetter produzierte eine weitere Platte, die „Meisterstücke“, später noch eine mit „Dr. Jaeger“-Beratungsgesprächen, und man hofierte ihn in der Hamburger Halbwelt-Boheme. Er zieht mit dem „Prinz von Homburg“ um die Häuser, lernt Hubert Fichte kennen, und der von Fichte porträtierte Lude „Wolli Indienfahrer“ besorgt ihm ein Mädchen, als er Jaegers erotische Verdruckstheit bemerkt.
„Jaeger war damals so eine Art Geheimtipp bei vielen“, sagt Christian Meurer, „und ich hatte immer den Eindruck, als wollten etliche, dass das auch so bleibt. Aber subkutan hat er schon gewirkt auf die Kabarettszene und auf diese ganze Nonsens-Welt. Solche Leute wie Loriot und Horst Janssen, die kannten ihn natürlich. Bei Hüsch, auch bei Insterburg & Co und Karl Dall fand man plötzlich Stücke, die ganz eindeutig bei ihm abgeklatscht waren.“
Dann begann er immer exzessiver zu saufen, vielleicht um die vom Vater geerbten schweren Depressionen, unter denen er Zeit seines Lebens litt und die ihn schon mehrmals in die Psychiatrie gebracht hatten, zu kalmieren. Es folgte die abfallende Kurve des pathologischen Alkoholismus. Und schließlich der totale psychische Zusammenbruch, von dem er sich nie mehr so ganz erholen sollte.
„Er war wirklich krank, das war keine Attitüde“ bestätigt Meurer. „Einer der Therapeuten erzählte mir, man habe bei ihm Schizophrenie oder doch eine Krankheit aus dem schizoiden Bereich diagnostiziert. Und er selbst hat mir gesagt, er sei in die Psychiatrie gekommen, weil er tatsächliche Stimmen gehört habe, was ja bei ihm eine besondere, tragische Ironie hat. Einer, der immer Stimmen nachgemacht hat, wird schließlich von ihnen heimgesucht.“
Die letzten 15 Jahre seines Lebens verbringt Heino Jaeger unter psychiatrischer Aufsicht und wird in dieser Zeit von der Öffentlichkeit gründlich vergessen. 1997 stirbt er an den Folgen eines Schlaganfalls. Vor allem Eckhard Henscheid, Frank Schulz und eben Christian Meurer haben immer wieder auf die „künstlerisch einigermaßen vorbildlose“ Potenz Jaegers hingewiesen und dafür gesorgt, dass er in Wort, Bild und Ton zumindest wieder lieferbar ist. Aber das ist ja alles „noch viel zu wenig“ und „längst nicht das letzte Wort“, hofft Meurer. Er denkt an „mindestens eine 5-CD-Box mit einem Querschnitt seiner Arbeit“, beim WDR und beim Saarländischen Rundfunk seien nämlich noch ungeahnte Schätze zu bergen.
Heino Jaeger: „Man glaubt es nicht“. Leben und Werk. Herausgegeben von Joska Pintschovius, Kein & Aber, Zürich 2005. 480 Seiten, mit zahlreichen Abb. 29,80 €