Ex-Vertauter über Chávez: "Unser Sozialismus muss demokratisch sein"
Das Nein zu Chávez' Verfassungsreform war ein Sieg für die Demokratie, so Exverteidigungsminister Raúl Baduel, der lange Chávez enger Vertrauter war
taz: Herr General, wie bewerten Sie den Sieg des "Nein" beim Referendum über die von Hugo Chávez gewünschte Verfassungsreform?
Raúl Baduel: Es war ein Sieg der Demokratie, der Bürgerrechte, des Friedens. In Venezuela entsteht eine positive politische Dynamik.
Was war denn die Botschaft an den Präsidenten?
Verfassungen werden nicht aufgezwungen, sondern entstehen im Konsens aller Sektoren eines Landes. Wenn wir das immer an Personen festmachen, tragen wir zur Polarisierung bei.
Immerhin hat der Vorschlag von Chávez drei Millionen Stimmen weniger erhalten als er selbst bei der Präsidentenwahl vor einem Jahr
Unbestreitbar hat der Präsident eine starke Beziehung zu den "Ausgeschlossenen" aufgebaut. Doch viele seiner Anhänger sind ihm jetzt nicht gefolgt. Das ist eine Lektion für alle. Jetzt sehen wir, wie wichtig der Pluralismus, die Vielfalt in der Einheit sind.
Und was ist die Lehre für die Rechte?
Viele, die sich gegen die Verfassung von 1999 gestellt hatten, haben jetzt erkannt, dass man sie verbessern kann. Das Ergebnis beendet nicht den neuen Kurs, auf den sich unser Land begeben hat. Venezuela bewegt sich auf eine Vertiefung der Demokratie zu, bei dem das Volk Protagonist und Teilhaber ist.
44 Prozent haben gar nicht abgestimmt
Die Enthaltung hat keine politische Kraft. Deswegen schlage ich vor, einen neuen Verfassungskonvent einzuberufen. Diesen Vorschlag habe ich mit parteipolitisch unabhängigen Leuten ausgearbeitet. Wir werden ihn diese Woche detailliert vorstellen.
Nach neun Jahren schon wieder eine verfassunggebende Versammlung? Warum?
Es gibt ja einen Sektor, der das Grundgesetz ändern will. Wir sollten diesen Impuls nutzen, um die Polarisierung abzubauen. Wir brauchen einen Sozialpakt, der auf breitem Konsens aufbaut.
Welche Rolle möchten Sie in der künftigen politischen Landschaft Venezuelas spielen?
Es ist noch zu früh, um das zu beantworten. Ich schließe nicht aus, dass ich parteipolitisch aktiv werde. Aber ich spreche nicht für die Opposition.
Wie wird sich Ihre Beziehung zu Chávez weiterentwickeln?
Es geht hier nicht um Sympathien oder Freundschaft. Wir müssen im Rahmen der friedlichen Koexistenz diskutieren, sonst verleugnen wir unsere demokratische Berufung. Wenn wir eine Million Freunde und ein Prinzip auf die Waage legen, muss sich das Prinzip durchsetzen.
Was bedeutet Ihnen die Debatte um einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts?
Zu dem Aufruf des Präsidenten, ein neues theoretisch-politisches Modell aufzubauen, habe ich im Juli gesagt, dass wir dabei nicht chaotisch vorgehen sollten, sondern mit Logik, Methode und Ordnung. Unser Sozialismus muss zutiefst demokratisch sein. Eine sozialistische Produktionsweise ist kompatibel mit einem demokratischen Regime mit Gegengewichten und Gewaltenteilung. Ich bin allerdings der Ansicht, dass wir uns von der marxistischen Orthodoxie entfernen sollten, für die Demokratie und Gewaltenteilung nur bürgerliche Herrschaftsinstrumente sind.
Eine sozialistische Verfassung ist also jetzt passé?
Eine sozialistische Regierung kann bereits im Rahmen der jetzigen Verfassung den sozialen Rechtsstaat entwickeln. Mehr soziale Gerechtigkeit, weniger Unsicherheit - das wollen doch alle. Aber Chávez wollte einer bestimmten Ideologie Verfassungsrang einräumen. Wo bleiben da jene, die diese Ideologie nicht teilen?
Würden Sie sich als Sozialdemokraten bezeichnen?
Ich habe mich vor allem auf den Realsozialismus der Sowjetunion bezogen. Die große Mehrheit der Venezolaner will kein gescheitertes Modell wiederholen. Wenn wir einen Sozialismus à la Venezuela entwickeln wollen, müssen wir ihn definieren.
Wie könnte denn ein lateinamerikanischer Sozialismus aussehen?
Wir haben gemeinsame Anliegen wie die Armutsbekämpfung, den Umweltschutz, die reale Integration. Dabei ist die Souveränität jeden Landes heilig. Wir müssen dafür sorgen, dass die Reichtümer unserer Region der Bevölkerung zugute kommen.
Zwischen Kolumbien und Venezuela kriselt es heftig. Wie beurteilen Sie die Vermittlungsbemühungen von Chávez, die Kolumbiens Präsident Álvaro Uribe vor 14 Tagen beendete, nachdem Chávez den kolumbianischen Heereschef Montoya angerufen hatte?
Man darf nichts unternehmen, was als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Kolumbiens gewertet werden könnte. Als Soldat hätte mir ein solches Vorgehen missfallen. Kolumbien und Venezuela haben gemeinsame Ursprünge und eine gemeinsame Zukunft.
INTERVIEW: GERHARD DILGER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!