piwik no script img

Interview: Kinderrechte ins Grundgesetz"Es gibt mehr Misshandlungen"

Auch die Einführung von Hartz IV führte zu einem Anstieg von Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen, sagt Sabine Walther vom Kinderschutzbund Berlin.

In dieser verwahrlosten Wohnung lebte ein Pärchen mit ihrer neun Wochen alten Tochter. Bild: dpa

taz: Frau Walther, nirgendwo in Deutschland werden so viele Kinder vernachlässigt und misshandelt wie in Berlin. Warum ist die Stadt die Hauptstadt des Kindesmissbrauchs?

KSB

Sabine Walther, 45, ist Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes in Berlin. Die Stadt ist die Hauptstadt des Kindesmissbrauchs.

Sabine Walther: Hier kommen sehr viele Risikofaktoren für Vernachlässigung und Misshandlung zusammen. Kinderarmut ist ein solcher Faktor. In Berlin ist der Anteil an armen Familien überproportional hoch. Aber ein anderer bedeutsamer Grund ist, dass in Berlin die Sensibilität für derartige Taten besonders groß ist. Es gibt hier das bundesweit einzige Kommissariat zur Bekämpfung von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Und das betreibt eine offensive Öffentlichkeitsarbeit mit Plakaten und einer speziellen Hotline. Deswegen werden in Berlin wahrscheinlich mehr Taten angezeigt als anderswo.

Die Zahlen sind in den letzten Jahren in Berlin gestiegen. Ist das nur eine Folge der höheren Sensibilität?

Nein, es gibt mehr Misshandlung und Vernachlässigung. Einer der Gründe dafür ist die Einführung von Hartz IV. Die Beträge, die beim Arbeitslosengeld II dafür eingeplant sind, Kinder zu versorgen, sind absurd niedrig. Dazu kommt, dass gerade die ärmsten Familien nichts vom Kindergeld haben, weil es mit Hartz IV verrechnet wird. Es ist doch klar, dass die Verzweiflung bei armen Eltern zunimmt, und damit steigt leider auch das Risiko von Misshandlung und Vernachlässigung.

Können Sie das belegen?

Es existieren leider keine brauchbaren Statistiken zu diesem Thema. Aber unsere Erfahrungen bestätigen das.

Sie haben sehr viel über arme Kinder gesagt. Misshandelt die Oberschicht nicht?

Doch, sicherlich. Sexueller Missbrauch beispielsweise geschieht unabhängig von der Schichtzugehörigkeit. Und vor allem nichtkörperliche Misshandlungen wie Psychoterror oder Liebesentzug kommen in der Oberschicht wahrscheinlich häufiger vor. Aber die großen Risikofaktoren wie mangelnde Chancengleichheit in der Bildung hängen nun einmal oft mit Armut zusammen.

Sollten Kinderrechte deshalb ins Grundgesetz?

Ja, das fordern wir schon lange. Unmittelbar würde es natürlich nichts ändern, aber langfristig haben Gesetze eine normierende Wirkung. Der Staat müsste sich beispielsweise ernsthaft damit auseinandersetzen, dass Kinder ein Recht auf Bildung haben. Damit würde die Diskussion um Ganztagsschulen völlig anders geführt werden.

Ist das nicht etwas viel erwartet? So eine Änderung des Grundgesetzes klingt doch eher nach Politiker-Aktionismus.

Es ist richtig, dass die Parteien im Fall von Kindesmisshandlung dazu neigen, sich auf einen unsinnigen Punkt zu konzentrieren und so zu tun, als könne damit das Problem beseitigt werden. Im Falle der Grundgesetzänderung ist das aber definitiv nicht der Fall. Da sehe ich die Forderung nach einer verpflichtenden Vorsorgeuntersuchung durch Kinderärzte schon kritischer.

Warum?

Weil es auf eine Kontrollbürokratie hinausläuft. Und Eltern, die ihre Kinder misshandeln, werden das nicht gerade dann tun, wenn die Untersuchung ansteht. Fälle wie Kevin wird man so nicht verhindern. Wir brauchen Modelle, die früher ansetzen und den Eltern Hilfe anbieten, wenn sie sich überfordert fühlen. In Hamburg beispielsweise kommen Paten des Kinderschutzbundes schon in die Entbindungsstationen und bieten Hilfe an. Und übrigens - selbst wenn die Pflichtuntersuchung kommt, was passiert denn dann? Der Arzt meldet etwas ans Jugendamt, aber deren Strukturen sind überlastet, weil es zu wenig Geld gibt. Also geschähe wahrscheinlich oft nicht mehr als heute auch.

INTERVIEW: DANIEL SCHULZ

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!