"Der Mensch ist nicht für absolute Stille geschaffen"

Geräusche liefern dem Menschen Informationen - etwa über drohende Gefahren, sagt Lärmforscher Christian Maschke.

"Dauerhafte Lärmbelästigung führt zu Schlafstörungen und Leistungsabfall", sagt der Lärmforscher Christian Maschke Bild: AP

taz: Herr Maschke, was passiert im menschlichen Körper, wenn er Lärm beziehungsweise lauten Geräuschen ausgesetzt ist?

Der Lärmforscher Christian Maschke, 55, ist Privatdozent für physiologische und psychologische Akustik an der TU. Am 23. Januar hält er dort einen Seminarvortrag über "Geräusch und Behaglichkeit". Er ist Mitinitiator des interdisziplinären Forschungsverbunds Lärm und Gesundheit am Berliner Zentrum Public Health.

Christian Maschke: Laute oder ungewohnte Geräusche lösen beim Menschen erst einmal eine unspezifische Aktivierung aus. Der Organismus reagiert. Wie und wie stark, hängt davon ab, ob etwas überhaupt als Lärm wahrgenommen wird.

Wann kann man von Lärm sprechen?

Lärm, das sind unerwünschte Geräusche. Eine subjektive Größe, wie jeder weiß, der in einem Mietshaus lebt: Die gleiche Musik, die mich erfreut, kann mein Nachbar als Lärm empfinden. Zum anderen bezeichnet Lärm schädigende Geräusche, die aufgrund ihrer hohen Dezibelzahl krank machen. Doch selbst Schädliches wird manchmal positiv wahrgenommen. Sonst hätten wir nicht das Problem der Gehörschäden durch laute Musik.

Also entscheidet das Gehirn, was Lärm ist? Dann könnte eine positive Einstellung selbst gegen ohrenbetäubende Düsenjets helfen

So einfach ist es leider nicht. Das Gehirn speichert Erfahrungen, die mit bestimmten Geräuschen verknüpft sind. Wenn Flugzeuglärm Sie um den Schlaf gebracht hat und der nächste Tag im Eimer war, dann reagiert beim nächsten Düsenjet umgehend Ihre Amygdala, das Furchtzentrum im Gehirn.

Das heißt, Lärm erzeugt Angst?

In diesem Fall, ja. Wenn Sie aber zum Beispiel durch ein ungewohntes Geräusch Ihres Kühlschranks geweckt werden, das sich als harmlos herausstellt, weiß Ihr Gehirn beim nächsten Mal: Dieses Geräusch ist ungefährlich. Und Sie schlafen sofort wieder weiter.

Wir haben also ein Lärmgedächtnis?

Das hört sich modern an. Tatsächlich ist unser Gehör ein nützliches Relikt aus grauer Vorzeit. Das Ohr ist ein Warnorgan, das die Umwelt permanent nach Gefahren absucht - und, wenn etwa der Säbelzahntiger zu hören ist, den Organismus in Kampf- beziehungsweise Fluchtbereitschaft versetzt. Darum kann man den Gehörsinn nicht verschließen wie die Augen.

Das heißt, man wird von heutigen Säbelzahntigern wie vorbeidonnernden Lkws gestresst, obwohl sie keine reale Gefahr darstellen. Kann man das nicht ausblenden?

Bei lauteren Geräuschen nicht. Zusätzlich kommt es auf die Verkehrsart an. Bei gleichem Schallpegel wird Fluglärm als sehr störend wahrgenommen, Schienenverkehr hat einen gesellschaftlichen Bonus, den erträgt man besser, weil er für alle da ist und einem Zeittakt folgt. Gegen Verkehrslärm hilft es, das Fenster zuzumachen. Nach hinten zu schlafen. Damit die Geräusche leiser sind und die damit assoziierte Gefahr möglichst weit weg ist.

Oder Ohrenstöpsel. Dann ist Ruhe im Hirn.

Genau deshalb können viele Menschen aber nicht mit Ohrenstöpseln schlafen. Auf Dauer ist es ungesund, dem Warnorgan alle Reize zu entziehen. Daher würde ich Stöpsel nur kurzfristig empfehlen. Manchmal reicht es, sie griffbereit zu haben. Damit fühlt man sich dem Lärm nicht mehr so hilflos ausgeliefert, was psychologisch wichtig ist. Langfristig helfen Entspannungsübungen und Einschlafrituale.

Das hört sich an, als ob Lärm reine Einstellungssache wäre. Aber dem Presslufthammer vor dem Fenster kommt man mit Entspannungsübungen nicht bei.

Die eben beschriebenen Maßnahmen sind natürlich nur bei vorübergehender Lärmbelästigung und Ruhestörung hilfreich. Ab einer gewissen Intensität ist Lärm aber gefährlich. Dauerhafte Lärmbelästigung führt zu Schlafstörungen und Leistungsabfall. Diesen Zustand muss man beenden, bevor es zu ernster Gesundheitsbeeinträchtigung kommt.

Indem man aufs Land zieht, wo Hähne krähen, Frösche quaken und Kirchenglocken bimmeln? Gibt es auch so etwas wie guten Lärm?

Ja, Geräusche, die Ihnen vermitteln, dass alles so ist, wie es sein sollte. Jedes Geräusch vermittelt auch eine Information. Hahnenkrähen ist laut, aber ein natürliches Tiergeräusch, das keine Gefahr transportiert. Damit kann es besser überschlafen werden, als wenn zwei Menschen neben Ihrem Bett im Flüsterton sprechen und Ihr Ohr versucht, die Informationen zu entschlüsseln. Je lauter das Geräusch aber ist, desto weniger kommt es auf die Information an: Ein Froschteich im Garten kann Nerven kosten.

Absolute Stille bestimmt auch. Wie viel davon brauchen wir eigentlich?

"Absolute Stille" gibt es nicht. Stille ist nicht einfach die Abwesenheit von Geräuschen. Für absolute Geräuschfreiheit sind wir nicht gemacht, das zeigt der schalltote Raum, den wir an der Universität für Schallmessungen benutzen. Nach einer gewissen Zeit bekommen Besucher darin Angst. Besonders wenn sie alleine sind und auch noch das Licht ausgemacht wird. Der systematische Entzug von Sinnesreizen ist eine Foltermethode.

Was macht Stille dann aus?

Stille ist eine Situation, in der sich das Individuum in einer Geräuschlandschaft befindet, ohne dass akustische Anforderungen an den Organismus gestellt werden. Eine Quelle der Erholung und ein erstrebenswerter Zustand. Aber nicht auf Dauer.

Wie viel Stille brauchen wir also?

Das optimale Verhältnis für gesundheitliches Wohlbefinden wären etwa zwei Drittel Beanspruchung und ein Drittel Stille. Aber die Balance muss letztendlich jeder selbst hinkriegen.

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