Kolumne Klatsch: Kaninchen heißt jetzt Hühnchen

Für Kinder und Amerikaner muss Fleisch aussehen, als habe es nichts mit Tieren zu tun.

Die Leiterin des Sommersprachkurses an der Universität Tübingen hatte für den gemeinsamen Ausflug ihrer amerikanischen Sprachschüler ein Lokal mit Aussicht auf den Bodensee vorbestellt. Zum Essen sollte es Bodensee-Felchen geben.

Als die amerikanischen Studenten die Fische auf ihren Tellern sahen, sanft gebraten an der Haut mit Kartoffeln und feinem Wurzelgemüse, verzogen sie angeekelt ihr Gesicht. Sie weigerten sich, auch nur den Fisch zu versuchen, der da vor ihnen lag und noch aussah wie ein einmal lebendiger Fisch, mit Augen und Flossen. Sie kannten Fisch als Fischstäbchen, zurechtgeschnitten in gleichgroße Rechtecke und mit Panade umhüllt. Dass auch ihr Fischstäbchen einmal ein lebendiges Tier war, war ihnen entweder kein Gedanke wert - oder aber sie verdrängten es erfolgreich. Fast alle von ihnen bestellten ein anderes Gericht, dem man nicht mehr ansah, aus was es gemacht war.

Man kann sich nun prächtig amüsieren über die Nachfahren der einstigen Pioniere, die Büffel noch mit dem Lasso fingen und vor dem Lagefeuer mit dem Messer in Einzelteile zerlegten, bevor sie es genüsslich am Knochen abnagten. Aber auch hierzulande denken die wenigsten Menschen noch an ein Tier, wenn sie Fleisch beim Metzger kaufen oder ein Steak im Restaurant bestellen. Ein Schnitzel, ein knusprig gebratener Schweinebraten, ein rosaroter Lammrücken - man beißt hinein und will sich lieber nicht vorstellen, wie das Stück Fleisch einmal Teil eines Organismus gewesen ist.

Dabei fängt Essen eigentlich erst an Spaß zu machen, je genauer man sich mit den Körperteilen und Innereien des Tieres befasst und dabei immer mehr darüber erfährt, aus welchen Regionen die feinsten Leckereien stammen. Was aus einem ausgekochten Kalbskopf für Sülze gekocht werden kann. Wie herrlich sich der unansehnliche Pansen von Kalb oder Lamm, in feine Streifen geschnitten und in Rotwein geschmort, in wunderbare Kutteln verwandelt.

Man muss weit fahren, am besten bis nach Frankreich oder Italien, um dort bei einem Charcutier oder einem Macellerista noch einem Berufsstand zu begegnen, der einem mit größter Selbstverständlichkeit beim Kauf eines Huhnes die abgehackten Beine und den Kopf in die Tüte packt. Selbstverständlich inklusive aller Innereien. Hühnerbeine und Hühnerköpfe ergeben eine ganz köstliche Suppe, und jeder, der gekörnte Hühnerbrühe aus dem Glas oder in Form von in Stanniolpapier abgepackten Würfeln verwendet, hat Hunderte von Hühnerbeinen vorher in den Gartrögen der Lebensmittelindustrie köcheln lassen.

Das alles schreibt ein verzweifelter, tieftrauriger Vater, der vor jedem Essen erst genau überlegen muss, wie er das Fleisch oder den Fisch optisch oder akustisch so täuschend auf die Teller bringt, dass der Sohn auch nur bereit ist, ein Stück davon auf die Gabel zu nehmen. Es ist inzwischen ein regelrechtes Lexikon des Täuschens und Betrügens, was er sich in den vergangenen Jahren zurechtlegte und von dem er mit jedem neuen Lebensjahr des Kindes fürchtet, der Schwindel könnte auffliegen und dann eine entsetzliche Enttäuschung verursachen.

Kaninchen, erst vor zwei Tagen wieder in Weißwein und ohne Knochen gegart, heißt grundsätzlich "Hühnchen", und "Hühnchen" darf nur als Hühnerbrust, also ohne Knochen und Wiederkennungsmerkmale an ein Lebewesen in den Einkaufswagen gelegt oder beim Metzger gekauft werden. Fisch geht nur als Fischstäbchen. Dazu werden die wunderbarsten Filets vom Rotbarsch oder vom Seeteufel in unnatürliche Vierecke zerschnitten und mit Panade überzogen.

Schwein geht seit einem Urlaub auf dem Bauernhof auch nicht mehr, Wildschwein dagegen, da aggressiv und böse im Wald lebend, gilt als essbar. Daher gibt es bei uns seit Monaten nur noch paniertes Wildschweinschnitzel. Der Metzger im Dorf ist eingeweiht. Ist Sohnemann im Schlepptau, heißt die Parole: "Haben Sie heute etwas vom Wildschwein?"- "Selbstverständlich", antwortet er, "alles was Sie wünschen."

Fragen zum Fleisch? kolumne@taz.de Montag: Kirsten Reinhardts KATASTROPHEN

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Journalist, Mitbegründer der Zeitenspiegel-Reportageschule, hält Brandenburg für die neue Toskana.

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