Altberlin: Einmal Zille-Bulette mit Milljöh, bitte!

Der Name Heinrich Zille steht heute für Berlin-Folklore mit flotten Sprüchen und deftiger Küche. Das "Milljöh", das der vor 150 Jahren geborene Kleine-Leute-Chronist beschrieb, ist längst aus dem Stadtbild verschwunden.

Det war Zille sein Milljöh, höhö! Bild: Theater im Nikolaiviertel

Für den 150. Geburtstag des Kleine-Leute-Chronisten Heinrich Zille am heutigen Donnerstag ist Berlin bestens gerüstet - zumindest gastronomisch. Für Fans des "Milljöhs" bietet die Stadt das ganze Jahr über eine solide Infrastruktur von der Zille-Speise bis zur Zille-Themenreise. In den Katalogen großer Reiseveranstalter kann man eine Übernachtung im Traditionshotel mit Altberliner Charme am Potsdamer Platz buchen - Einrichtung im Gründerzeitstil mit "original erhaltenen Stücken", Berliner Innenhof und Zille-Teller im Restaurant inklusive. Im Ratskeller Köpenick führt Volksschauspieler Jürgen Hilbrecht das Zille-Potpourri "Det war sein Milljöh" auf. Dazu gibt es das Buffet "Berlin Alexanderplatz mit Lieblingsspeisen von Heinrich Zille und dem Alten Fritz" mit Salaten von der Kaltmamsell und Variationen von Köpenicker Räucherfischen.

Zum 150. Geburtstag des Zeichners, Malers und Fotografen Heinrich Zille (1858-1929) werden dessen Bilder mitten in der Stadt wieder lebendig. Heute stellen acht KünstlerInnen der "Theater Fabrik Sachsen" in der Propststraße - unweit der Nikolaikirche und des Zille-Museums - Milieuszenen nach, die der sozialkritische Zille festhielt. Dann werden ab 17 Uhr "Dirnen" samt "Zuhältern" durch das sonst so ehrwürdige Nikolaiviertel spazieren. Zudem könnten die Passanten eine Hochzeitsszene miterleben. Zuvor wird eine lebensgroße Kalkstein-Skulptur des Malers gegenüber der Nikolaikirche enthüllt. DDP

Der Zille-Teller, besonders gern in Restaurants rund um Kudamm und Potsdamer Platz serviert, ist ein Klassiker der Berlin-Folklore wie Berliner Weiße mit Schuss oder Eisbein mit Sauerkraut. Im "Boulevard Friedrichstraße" besteht er aus "pikanter Sülze mit Sauce Tatare, Bratkartoffeln, Zwiebelringen und Salatgarnitur". Zille zieht, das hat die Berliner Gastronomie längst erkannt. Mit Zille-Buletten, Zille-Zeichnungen an den Wänden und Zille-Sprüchen auf der Speisekarte bemüht man sich nach Kräften, das preußische Berlin der Kaiserzeit wieder auferstehen zu lassen.

Dabei offenbart die Heinrich-Zille-Sülze auf dem Teller das ganze Elend der heutigen Zille-Rezeption: Der in Armut aufgewachsene Zeichner, Grafiker und Fotograf, dem es ein Anliegen war, das Elend der Großstadtproleten zwischen Fabrik, Mietskaserne und Kneipe abzubilden, muss herhalten für Folklore der billigsten Art.

In den holzgetäfelten Gaststuben Alt-Berliner Machart hängen fast ausschließlich Zeichnungen aus den Büchern "Kinder der Straße" (1908), "Mein Milljöh" (1913) und "Hurengespräche" (1921): Deren derb-komisches Personal - die pummeligen Hinterhof-"Jören", der Eckensteher Nante und die dicken Huren des "Milljöhs" - wird gern genommen, um den berüchtigten Berliner Humor aus Herz und Schnauze zu illustrieren: "Mutter, jib doch mal die zwee Blumentöppe raus, Lieschen sitzt so jerne ins Jrüne!"

Der Sohn eines stets bankrotten Uhrmachers, den die gehobene Berliner Gesellschaft als "Abortzeichner" schmähte, war beim Volk schon zu Lebzeiten als "Pinselheinrich" populär. Inzwischen aber kennt man ihn nur noch als betulichen "Papa Zille" mit Berliner Mutterwitz. Die Schwarzweißfotografien von ausgezehrten Arbeitern und Lumpenbettlern, die das Mitglied der Berliner Secession ebenfalls produzierte, bekommt der Tourist nicht zu Gesicht.

Bis auf die Zille-Gesellschaft und das vom Urenkel des Künstlers gegründete Museum ist das Vermächtnis des Chronisten fest in der Hand von Tourismusvermarktern und kitsch-affinen Nostalgikern. Die Hochburg des Zille-Trashs ist das Nikolaiviertel an der Klosterstraße. In der Kulisse dieses DDR-Disneylands aus Betonplatten mit Stuckverzierung gruppieren sich die Zille-Stuben und die Zille-Distille, das Zille-Museum und ein Theater, das für seine Zille-Revue bekannt ist. Weil er sich der werktätigen und unterdrückten Massen annahm, wurde der Künstler in der DDR als Freund des Proletariats hochgehalten.

In den Zille-Stuben schmunzelt man über eine Grafik auf den Tischdecken. Ein dickes kleines Mädchen bietet ihrem Bruder den Rockzipfel zum Schnäuzen an: "Drücken musste!" Dazu gibt es Märkischen Landmann vom Fass, ein Kellner mit Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart serviert die Zille-Bulette mit Setzei und Grützwurst. Das freut DDR-Fans und Touristen, die sich hier gleichzeitig in der Kaiserzeit und in Ostberlin fühlen dürfen.

Posthum wurde auch das tatsächliche Stammlokal des Zeichners in diese piefige Touristeninsel eingemeindet. Berlins älteste Gaststätte Zum Nussbaum, wo Zille mit Eulenspiegel-Herausgeber Otto Nagel und Sängerin Claire Waldoff trank, wurde im Krieg zerstört. Die DDR baute sie 1986 wieder auf - in direkter Nachbarschaft zu den Zille-Stuben und Läden, die Kunsthandwerk aus dem Erzgebirge verkaufen. Die Mulackritze, eine andere Kneipe, die der Zeichner frequentierte, als er noch in Lichtenberg lebte, gibt es gar nicht mehr. Nur der Tresen steht noch im Mahlsdorfer Gründerzeitmuseum.

Dort, wo der gebürtige Dresdner Heinrich Zille am längsten lebte und zeichnete, erinnert kaum etwas an ihn. Der Charlottenburger Kiez zwischen Klausenerplatz und Kaiserdamm, wo er 37 Jahre seines Lebens verbrachte, ist heute ein bescheidenes Wohnviertel mit Autowerkstätten, Dönerbuden und Weinhandlungen in sanierten Gründerzeithäusern. Zilles ehemaliges Wohnhaus in der Sophie-Charlotte-Straße 88 beherbergt ein mexikanisches Restaurant. Die gußeiserne Gedenktafel aus dem Jahr 1931 wirkt auf der quietschbunten Fassade wie ein Fremdkörper: "Hier wohnte vom 1. September 1892 bis zu seinem Tode der Meister des Zeichenstiftes, der Schilderer des Berliner Volkslebens".

Um die Ecke, in der Danckelmannstraße, verschwindet das "Milljöh" der Zille-Zeit unter Schichten neuerer Geschichte: Die Straße war in den 1980er-Jahren eine Hochburg der Hausbesetzerszene. Man traf sich beim "Dicken Wirt", wo weder Zille noch Che Guevara im Fenster hängen, sondern ein Schwarzweißporträt von Elvis. Daneben künden Kinderläden, Ökobäcker und ein Innenhof mit Ziegen von der allmählichen Etablierung der Besetzer.

Nur die Nummer 46-47 lässt noch das Kleine-Leute-Viertel Zilles mit seinen Arbeitern, Angestellten und kleinen Beamten erahnen. 1908 wurde dort das erste deutsche Ledigenheim eröffnet. In den Einzelzimmern fanden bis zu 370 unverheiratete junge Männer Unterkunft, die sonst als "Schlafburschen" die engen Mietwohnungen armer Familien übervölkerten. Das Schlafgängerwesen galt damals als Gefahr für Moral und Familie. Jetzt wird das Haus als Studentenwohnheim genutzt - für beiderlei Geschlecht. Die Besuchsvorschriften des "Bullenklosters" waren streng, das belegt das mahnende Fassadenrelief "Tages Arbeit, Abends Gäste".

In der Zillestraße hinter dem Schloss Charlottenburg erinnert einzig das Straßenschild an den "Pinselheinrich". So richtig milljöhhaft geht es ausgerechnet am großbürgerlichen Savignyplatz zu, wo der Zille-Markt gleich eine ganze Speisekartenrubrik mit Leibgerichten des Malers bietet. Ein venezolanisches Paar lässt sich den "Fleischtopf Jehobenes Milljöh" schmecken und betrachtet fasziniert die mit Luftschlangen und Zille-Zeichnungen geschmückten Holzwände. Wer Heinrich Zille war, wissen die beiden nicht, aber das Interieur der Kneipe passt zur Stadt und zum Wetter, finden sie. "Hier ist es schön warm und gemütlich. Nur dieses schwere Bier zum fettigen Essen muss nicht sein", meint sie mit einem kritischen Seitenblick auf ihren biertrinkenden Partner. Gut, dass die beiden die Sprüche in der Speisekarte nicht verstehen: "Tu den Mund nicht unnütz auf, red vernünftig oder sauf!"

Lehrreich ist immerhin die Anekdote, dass in den Kaschemmen der Kaiserzeit die Löffel an den Tisch gekettet wurden. Kneipen der untersten Kategorie nannte man Budike, Stampe, Piesel oder Destille. Die immerhin reimt sich auf Zille. Ein sehr dünner Aufhänger, aber für findige Hauptstadtgastronomen ein willkommener Vorwand, "Zillebier" zu brauen. Das dürfte den eifrigen Kneipengänger Heinrich Zille gefreut haben. Und, wer weiß? Vielleicht hätte der volkstümliche Zeichner die hemmungslose Vermarktung seines Namens als Alt-Berliner Marke gar nicht so schlimm gefunden. Immerhin hielt er schon zu Lebzeiten sein Gesicht für die Zigarettensorte "Heinrich Zille" hin.

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