Das Glück des Waisenkinds

Radikal, böse, aber im Grunde optimistisch: Nuruddin Farahs neuer Roman „Links“ ist eine Parabel auf den Bürgerkrieg in Somalia

VON ILJA BRAUN

Ob Nuruddin Farah den Literaturnobelpreis irgendwann noch bekommt? Inzwischen ist er dafür schon so lange im Gespräch, dass es immer unwahrscheinlicher wird. Dabei könnte der afrikanische Autor, von dem bereits zwei Romantrilogien in deutscher Übersetzung vorliegen, einen Popularitätsschub gut gebrauchen. Seit über zwanzig Jahren schreibt der in Kapstadt lebende Farah dagegen an, dass seine Heimat dem Vergessen anheim fällt: Somalia, eines der ärmsten Länder der Welt mit einer Analphabetenquote von 75 Prozent. Einst kolonialisiert, auf dem Reißbrett aufgeteilt und bis 1991 vom sozialistischen Diktator Siad Barre blutig regiert. Nach dessen Sturz brach ein Bürgerkrieg aus, den USA und UNO 1992 im Hauruckverfahren beenden wollten. 1995 zogen die letzten Blauhelme ab, ohne eine Einigung der zerstrittenen somalischen Clans bewirkt zu haben. Unzählige Warlords beherrschen seither verschiedene Landesteile und die Hauptstadt Mogadischu, wo die 2004 gebildete Übergangsregierung noch nicht Einzug zu halten wagt.

Nicht oft ist das literarische Werk eines Autors so verwoben mit der Geschichte und Gegenwart seines Landes, wie es bei Farah der Fall ist. Seine Romane drehen sich um die Frage nach einer somalischen Identität, die zweifach unabhängig wäre: einerseits von den familiären Blutsbanden, aufgrund derer die Clans Loyalität verlangen, andererseits von westlicher Bevormundung. Freilich liegt die eigentliche Botschaft meist in verschlüsselter Form vor. Die Heldin von „Duniyas Gaben“ etwa erlangt das Liebesglück mit ihrem Traumprinzen nur, wenn sie dafür ihre persönliche Unabhängigkeit aufgibt. Genauso hat Farah stets die westliche Entwicklungshilfe als „vergiftetes Geschenk“ betrachtet und statt Almosen die Aufhebung von Handelsembargos und Waffengeschäften gefordert.

Gleichnishaft ist die Handlung auch wieder in seinem neuem Roman „Links“. Gemeint sind hier die Bande, die der Exil-Somalier Jeebleh nach wie vor mit seiner Heimat hat. Nachdem er 20 Jahre in den USA gelebt hat, kehrt er zurück, um seiner verstorbenen Mutter an ihrem Grab die letzte Ehre zu erweisen. Sein Vorsatz, sich keinesfalls in „somalische“ Angelegenheiten verstricken zu lassen, erweist sich schnell als hinfällig. Aus dem Waisenheim seines alten Freundes Bile wurde ein Mädchen entführt, das als Wunderkind galt. Es vermochte um sich herum eine Art von magischem Schutzwall aufzubauen: Wer sich in der Nähe der kleinen Raasta aufhielt, war geschützt vor den Bürgerkriegszuständen. Ein Friedensengel in einer von Gewalt geprägten Umwelt also – kein Wunder, dass es da Personen gibt, die an Raastas Friedensvermögen kein Interesse haben. Jeebleh macht sich auf die Suche nach dem Aufenthaltsort des Mädchens.

Nicht zum ersten Mal stellt Farah eine Waise in die Mitte seines literarischen Kosmos. Schon in „Maps“ war ein Adoptivkind auf der Suche nach seiner Identität, in „Duniyas Gaben“ wurde ein Findelkind zum Streitfall, und Kalaman in „Geheimnisse“ kam zur Welt, nachdem seine Mutter Opfer einer Massenvergewaltigung geworden war. Legt die westliche Brüder-Grimm-Sozialisation es dem Leser nahe, das Waisenkind als bedauernswertes, verlassenes Geschöpf zu identifizieren, so tickt Farah anders. Inmitten der allgegenwärtigen Gewalt ist es für das Wunderkind Rastaa ein Glück, in einem beschützten Heim aufzuwachsen. Ohne Clanzugehörigkeit wird es nicht in die blutigen Kämpfe des Bürgerkriegs verwickelt. Ein Clan ist die erweiterte Familie, und so was wie Blutsloyalität und ihre Rachebande hält Farah für grundsätzlich überholt – eine Denkweise, die das Individuum von der Verantwortung für sein Handeln entlastet. Vor diesem Hintergrund kann das auf sich selbst gestellte Waisenkind zum Prototyp des selbstverantwortlichen Subjekts werden. Dass es im Roman den ersehnten Frieden verbreitet, versteht sich natürlich parabelhaft.

„Der Motor, der den somalischen Bürgerkrieg am Laufen hält, ist Geld“, hat Farah anlässlich des Erscheinens von „Links“ gesagt. Mit satirischer Bissigkeit übersetzt er das Statement in die Fiktion: Eine gemeinnützige NGO namens „Funeral with a difference“ sammelt auf den Straßen Mogadischus die Leichen ein, vorgeblich, um den Toten ein würdiges Begräbnis zu verschaffen. In Wirklichkeit betreibt Geschäftsführer Af-Laawe, der gute Beziehungen zur UN hat, einen illegalen Organhandel mit Ländern des Nahen Ostens. Das ist ein böser Einfall. Aber er passt gut in die düstere Totentanz-Atmosphäre von „Links“, seit langem der radikalste Roman Farahs über Somalia. Den düsteren Seiten zum Trotz ist der Roman jedoch kein literarischer Abgesang auf ein Land, das im Chaos zu versinken droht. Im Grunde ist es ein optimistisches Buch, bleibt das Wunderkind Rastaa als Symbol der Hoffnung auf Frieden doch unversehrt und wird am Ende gerettet. Die symbolische Lesart drängt sich da förmlich auf: Nuruddin Farah gibt die Hoffnung auf Frieden und Selbstbestimmung für sein Land nicht auf.

Nuruddin Farah: „Links“. Aus dem Englischen von Inge Uffelmann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005, 400 Seiten, 24,80 Euro