Die Buddenbrooks von Wilmersdorf

CHRONISTEN Seit mehr als einem Vierteljahrhundert dokumentieren die Filmemacher Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich unter dem Titel „Berlin – Ecke Bundesplatz“ den ganz normalen Alltag der feinen und einfachen Leute im Kiez. Vier neue Filme sind auf der Berlinale zu sehen. Ein Spaziergang

Die Aufnahmen sind schnörkellos. „Wir haben gerackert wie die Hafennutten“, sagt eine Protagonistin

VON SUSANNE MESSMER

Betonhimmel, Wind, Eisregen – an einem anderen Ort wäre das kaum zu ertragen. Der Bundesplatz hingegen ist ohnehin eine der grausten Stellen Berlins, flankiert von S- und Autobahn, teils untertunnelt. Die graumelierten Filmemacher Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich, die hier seit einem Vierteljahrhundert unter dem Titel „Berlin – Ecke Bundesplatz“ drehen und nun vier neue Filme ihrer Langzeit-Dokumentation auf der Berlinale zeigen, sind uneins: Ullrich, der gebürtige Magdeburger und Barschere der beiden, murrt sehr, als er sich den schicken Mantel überwirft. Gumm, der Weichere aus dem Hunsrück, sagt dagegen strahlend: „Na ja, für unser Baby machen wir doch alles.“

Doch auch er weiß: Der Bundesplatz ist kein Ort zum Flanieren oder gar Verweilen – hier gibt es keine ausgefallenen Cafés und Sehenswürdigkeiten, beim Italiener ist das teuerste Gericht noch immer das Cordon Bleu. Und selbst, wenn ein Haus einmal versucht, ein wenig schicker auszusehen, dann wirkt es gleich protzig und übertrieben.

Der Bundesplatz ist einer der stinknormalsten, unspektakulärsten Orte dieser Stadt – und genau dies war es, was Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich von Anfang an in den Bann schlug. Als sie 1986 die Gegend mit tausenden Postwurfsendungen überzogen und begannen, die Helden ihres Langzeitprojekts zu casten, da wussten sie: Dieser Kiez würde sich nie umkrempeln und homogen machen lassen, um in unterkühltem Schick enden.

Sie fanden ein Stück Berlin, in dem sich Arm und Reich, Bürgertum und Subproletariat begegnen – und sich auch nicht so schnell wie in anderen Vierteln auseinanderleben. Natürlich gab es auch hier Veränderungen. Die Mieten wurden nach der Wende wie überall in der Stadt teurer, viele kleine Geschäfte mussten aufgeben. Aber all das geschah langsamer als anderswo – und zudem jenseits von Berlin-Klischees, Marketing-Prosa und Medienaufmerksamkeiten.

Wir laufen die Mainzer Straße herunter und passieren ein mintgrünes Haus. Gumm und Ullrich bleiben stehen. Im Laden residiert eine Geschäftsstelle der Signal Iduna. Hier befand sich früher die Bäckerei der Familie Dahms, die in einem der neuen Filme die Helden sind. Die beiden zucken traurig mit den Schultern. „Bäckerei im Kiez“ erzählt von zwei einfachen Leuten mit zwei Kindern in einem dieser schönen, traditionellen Bäckerläden, wie man ihn heute nur noch selten findet.

Ein kleines, einfaches Leben ist das der Bäckerfamilie, ein hartes, und doch hat das Paar erstaunliche Draufsicht, sie sprechen reflektiert, pointiert und witzig über ihre prekäre Situation: Schon damals kamen sie kaum mehr gegen die Dumpingpreise der Supermärkte an. Jahre nachdem sie den Laden aufgegeben haben und der alte Bäckermeister am Krebs gestorben ist, da geht Frau Dahm noch einmal mit den Filmemachern zu ihrem alten Geschäft, das mal wieder leer steht und zu mieten ist. Inzwischen lebt sie von Hartz IV, holt sich das Essen oft bei der Tafel. Ihr Blick auf die Vergangenheit ist trotzdem gänzlich unsentimental. „Wir haben geackert wie die Hafennutten“, bemerkt sie trocken. Gumm und Ullrich sorgen sich um Frau Dahms. Und Ullrich, der mit dem Bart und den tieferen Augenringen, der eher abgebrüht wirkt, beginnt wild zu gestikulieren und ruft aufgeregt von „Verantwortungslosigkeit“ und „Schweinerei“.

Einen Moment später stehen Gumm und Ullrich auf einer Verkehrsinsel auf der Bundesallee, die kaum dazu gemacht sein kann, sie zu betreten. Unter uns rauschen die Autos in den Tunnel. Ullrich schaut durchs Fenster einer Änderungsschneiderei, die in einem der Filme vorkommt, und winkt heftig. Der Schneider winkt vertraut zurück. Gumm weist zufrieden auf einen Balkon, hinter dem Reimar Lenz wohnte, als sie ihn kennen lernten, den unangepassten Intellektuellen, der 22 Jahre lang seine Stube zum politischen Salon verwandelte und der immer wieder auftaucht in den Filmen von „Berlin – Ecke Bundesplatz“.

„Wir sind alt geworden mit unseren Helden“, sagt Ullrich, und beschreibt damit seine Rolle sehr gut. Wie nette Nachbarn, wie gute, verständnisvolle Zuhörer begegnen die Filmemacher ihren Protagonisten, und oft sprechen sie auch mit ihnen wie bei der flüchtigen Begegnung im Hausflur – ohne festgezurrte journalistische Thesen im Kopf; beiläufig, ohne viel zu fragen und nachzubohren, aber dennoch stets beteiligt, ja mitfühlend.

„Wir haben versucht, nie einen bloßzustellen“, sagt Gumm zu diesem Thema. Ganz im Schema des eingespielten Ehepaars legt Ullrich nach: „Keine Brecheisen. Es kommt darauf an, den richtigen Moment zu erwischen.“ Damit verraten die beiden nicht nur, dass sie sich mit ihren Helden angefreundet haben, sondern auch, aus welcher Denktradition sie stammen. 1947 und 1942 geboren, drehten sie ihre ersten Filme, als viele Autoren, Filme- und Theatermacher das Dokumentarische entdeckten, Gespräche protokollierten, auf allwissende Kommentare verzichteten und die Betroffenen auf Augenhöhe zu Wort kommen ließen – übrigens in West wie Ost, wie man an den Brandenburger „Kindern von Golzow“ sieht, die Barbara und Winfried Junge 1961 bis 2007 begleiteten.

Auch Gumm und Ullrich erkundeten stets das Private jenseits der großen Politik, das Arbeits- und Alltagsleben der Leute haben sie dabei niemals romantisiert, sondern lieber nach deren Selbstbild gefragt.

Es geht weiter mit dem Spaziergang, und es dauert nicht lang, bis wir an dem Haus vorübergehen, in dem die Erzählung über die wundersame Wandlung des Prominenten-Anwalts Ülo Salm beginnt. Tatsächlich ist der Film mit dem Titel „Feine Leute“ eines der schönsten Beispiele dafür, mit welchem Einfühlungsvermögen und Respekt, welcher Geduld und Demut Gumm und Ullrich ihren Helden begegnen.

Als der Promi-Anwalt Salm eingeführt wird, da hat man zunächst das Gefühl, als könnte man diesem eitlen Gecken mit seinen lächerlich großen und ewig sabbernden Doggen, seinem Rolls-Royce und seinem Herrenzimmerbüro unmöglich knappe 90 Minuten folgen. Nach spätestens zehn Minuten aber ist man völlig gebannt und will wissen, warum dieser Mensch tickt, wie er tickt – und beginnt auch schon einiges zu ahnen. Und das, obwohl Herr Salm stets die „Contenance wahrt“, wie er sagt, selten Persönliches verrät – und auch nie dazu gedrängt wird.

Der Regen wird schlimmer, wir kehren zurück ins Büro von Känguruh-Film, der Produktionsfirma der beiden Filmemacher in der Weimarischen Straße. Die beiden setzen sich auf die Heizung und reiben sich die Hände, um wieder warm zu werden. Sie freuen sich auf die Berlinale. Mit Stolz sprechen sie von ihrem „Hauptwerk“, diesen „Buddenbrooks von Wilmersdorf“, wie sie ganz zu Recht meinen – auch wenn es das nicht ganz trifft, denn anders als bei den Buddenbrooks geht es bei Gumm und Ullrich nicht um eine, sondern um viele Familien aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten. Sie berichten, dass sich inzwischen schon Ethnologen und Historiker für das Material interessieren, das wertvoller wird, je älter es ist; von den 60 Stunden Film, die es inzwischen gibt; und schließlich auch von der Melancholie, die sie beschleicht: Für Projekte wie ihres würden immer seltener Gelder bereitgestellt. Es sei wohl bald zu Ende mit „Berlin – Ecke Bundesplatz“.

Am anderen Ende der Stadt bricht Karsten Schulze ein paar Stunden später in sehr lautes Gelächter aus, als er das hört. „Zu Ende?“, ruft er. 1986 stand Schulze vor der Kamera von Gumm und Ullrich, damals war er gerade mal 18. Er trug lustige Locken, lachte viel, ging gern mit seinem Kumpel Michael Creuz in die Muckibude und wollte wie er Schornsteinfeger werden. Er überlegte es sich anders, versuchte sich als Schauspieler und als Herrenausstatter und meldete sich Jahre nicht bei den beiden Chronisten. Und trotzdem, erzählt er in einem Café in Prenzlauer Berg, habe er noch heute blindes Vertrauen zu Gumm und Ullrich, die er nun den größten Teil seines Lebens kennt.

„Zu Ende?“, sagt er noch einmal. „Die drehen doch weiter, bis sie tot umfallen“, fügt er glucksend an. Auch er weiß, es wäre unendlich schade, wenn es tatsächlich nicht weiterginge mit „Berlin – Ecke Bundesplatz“. Gerade ist Schulze für den neuen Film „Schornsteinfegerglück“ mit den beiden in den Urlaub in die Türkei gefahren. Man kann ihm dabei zusehen, wie er mit dem Schwiegervater im Olivenhain palavert und mit seinen Jungs auf dem Traktor über die Felder holpert. Er lacht noch immer so viel wie mit 18 und wirkt genauso frei und unbeschwert wie damals, als er beschloss, dass er nicht sein Leben lang auf Dächer steigen wollte.