Familienleben in Japan: Glanz und Elend der Notgemeinschaft

Auch in Japan erodiert die Familie. Zwei Filme erzählen vom neuen Leben jenseits traditioneller Beziehungen.

Niederschmetternd melancholische und doch malerische Variationen des Themas Familie. Bild: berlinale

Jeder lebt auch in Japan für sich allein, das wissen wir spätestens durch die traurigen Helden der Romane von Haruki Murakami und Banana Yoshimoto, und wenn der Mensch überhaupt eine Chance hat, kurzfristig aus dem engen Käfig des Selbst auszubrechen, dann in zufälligen, vorübergehenden Notgemeinschaften. Bei den beiden japanischen Filmen "Yushinata ni ochiru koe" ("Higurashi") im Forum und "Megane" ("Glasses") im Panorama handelt es sich um sehr verschiedene, aber in beiden Fällen um niederschmetternd melancholische und doch malerische Variationen dieses Themas.

"Higurashi" des 1978 geborenen Schauspielers und Regisseurs Hirosue Hiromasa erzählt die Geschichte zweier Alleinerziehender in der tristen Vorstadt, deren Wege sich zufällig kreuzen. Mutter und Sohn haben schon Jahre kaum miteinander gesprochen, ihre einzige Verbindung besteht darin, dass sie ihm morgens, bevor sie zur Arbeit geht, eine Schüssel gebratener Nudeln hinstellt und eine nichts sagende Notiz schreibt wie etwa: "Auch heute hat wieder ein schöner Tag begonnen." Unabhängig voneinander werden beide später sagen, dass sie sich nicht mehr an ihre Beziehung oder auch nur an die Stimme des anderen erinnern können.

In dem Moment, als sich die Mutter aus unerfindlichen Gründen in einer Call-Girl-Agentur bewirbt, ist der allein erziehende Vater drauf und dran, seine Existenz zu ruinieren. Seinen Job als Drücker verliert er, weil er unfähig ist, Abonnements zu verkaufen, seine Tochter verliert er, weil er meint, seine Unfähigkeit würde ihr Leben ruinieren. Dann bestellt er sich bei eben jener Agentur eine Prostituierte, in der die Mutter arbeitet. Die Beziehungen werden neu gemischt.

Während "Higurashi" die Einsamkeit als finster klaustrophobische Schachtel darstellt, die starre Kamera immer wieder winzige Ausschnitte im Dämmerlicht zeigt, sich kaum nah an die Figuren traut und wiederholt schüchtern durch halb geöffnete Türen späht, reißt die Kamera im beschwingteren "Megane", dem vierten Film der 1972 geborenen Regisseurin Naoko Ogigami, geradezu auf. Zwei Frauen, die eine, Sakura, etwas älter, die andere, Taeko, etwas jünger, landen mit einer Propellermaschine auf einer abgelegenen Insel. Sakura nimmt eine Strandbar in Betrieb, in der sie selbst gemachtes Eis anbieten wird, Taeko schleppt zielstrebig ihren Koffer in eine kleine, verträumte Pension und wird dort von einem recht lässigen Besitzer in Empfang genommen. Anfangs ist Taeko noch wild entschlossen, die Pflichten der Touristin zu erfüllen und sich nicht auf die seltsamen Regeln der schrulligen Insulaner einzulassen. Aber an diesem Ort gibt es nichts zu tun, als zu essen und vor sich hinzudämmern. Nach einem gescheiterten Ausbruchversuch - Taeko versucht, das Hotel zu wechseln - gibt sie allmählich klein bei.

Gemeinsam mit einer etwas patzigen Biologielehrerin vor Ort und einem verliebten Studenten, der der Professorin Taeko nachgereist kommt, entsteht eine komische Behelfsfamilie. Das Besondere: Keiner fragt den anderen, was er hier macht, was er vorhat, woher er kommt und wohin er will. Wie in "Higurashi" hat auch bei "Megane" die traditionelle Familie ausgedient. Neue Gemeinschaften funktionieren nur auf der Basis alltäglicher Rituale ohne Verpflichtungen, Verantwortlichkeiten, bohrende Fragen und daraus entstehenden Kommunikationsstörungen.

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