: Alle Türen standen offen
Die Besetzer im Jahr 1990 bekämpften nicht böse Spekulanten. Die waren in Ostberlin noch gar nicht angekommen. Sie nutzen den Leerstand für eigene Experimente. Am Ende bekamen sie doch die Lösungen aus dem Westen
Wenige Tage nach der Besetzung tauchten sie auf. Die von drüben. Die aus dem Westen. Die Kreuzberger. Sie saßen in den Küchen in Prenzlauer Berg oder Friedrichshain und erzählten von damals, von den 80er-Jahren. Und wie man das nun richtig machen müsse. Mit den Bullen. Mit dem Kampf gegen das System. Sie kamen zu spät.
Wir hatten uns längst aufgemacht, eigene Lösungen zu suchen. Wir waren in das Vakuum getreten. Die leeren Häuser und eine Halbstadt ohne politisches System. Der dritte Weg, der zwischen Sozialismus und Kapitalismus, war für viele kein Traum, sondern realistische Alternative.
„Wir“, das waren Studierende, Künstler, Wohnungslose, Abenteurer, Suchende. „Wir“ kamen aus dem Osten oder waren, wie ein ehemaliger DDR-Oppositioneller bald meinte, „ostsozialisiert“. „Wir“, das war vor allem ein bequemes Gefühl der Zugehörigkeit. Wir waren selten einer Meinung.
Doch anders als zehn Jahre zuvor, bei den Hausbesetzungen im Westen der Stadt, wurde im Osten nicht der böse Spekulant bekämpft, der einzelne Häuser abreißen wollte. Der war hier noch gar nicht angekommen. Noch verwalteten kommunale Wohnungsbaugesellschaften die Bestände. Die Eigentumsfrage stellte sich im Osten ganz anders.
Zwar war längst klar, dass all die schönen volkseigenen Häuser an ihre ursprünglichen Eigentümer rückübertragen werden sollten. Aber bis dahin war Zeit, eigene Marken zu setzen. Schließlich standen alle Türen offen, ganze Straßenzüge leer. Man musste nur reingehen und sie mit der eigenen Fantasie füllen.
Um Lösungen rangen die Hausbesetzer keineswegs allein. Die Öffentlichkeit der jeweiligen Bezirke diskutierte rege mit – vor allem in Prenzlauer Berg wurde die Tradition des runden Tisches noch bis Mitte der 90er-Jahre gepflegt. Besetzer, Politiker, Wohnungsbaugesellschaft und Polizei redeten miteinander. Meist redeten alle aneinander vorbei. Aber manchmal spielte man sich trickreich die Bälle zu.
Und noch etwas war anders als zehn Jahre zuvor im Westen: Auch in Friedrichshain und Prenzlauer Berg waren die Häuser schnell verbarrikadiert, stabile Falltüren in den Treppenhäusern sollten den Eindringling von außen abwehren. Doch der größte Feind war nicht die Polizei, zumindest nicht im Sommer 1990. Mehr Angst verursachten die Überfälle der Neonazis.
Erst nach und nach drang der Westen in den Osten vor. Am 14. November 1990 kamen tausende Polizisten, um die Mainzer Straße in klassischem Stil zu räumen – ohne vorher nach einem Gespräch zu suchen. Danach kamen die Juristen und boten vielen der übrig geblieben Besetzerkommunen Einzelmietverträge an. Die entsprachen zwar keineswegs der Realität in den Häusern, dafür aber umso mehr dem neuen Rechtssystem. Schließlich kamen die Sanierungsträger mit ihren drüben bewährten Konzepten der behutsamen Stadterneuerung. Und mit den Millionen aus dem Selbsthilfefördertopf, mit dem die Bewohner ihre Häuser selber sanieren durften – ganz so wie drüben in den 80ern.
GEREON ASMUTH