Kolumne Das Schlagloch: Tanz der Mitwisser

Es braucht eine Sexualmoral, die alte Ideen von Sittlichkeit überwindet.

Selbst als ich jünger und ziemlich orthodox war, als ich noch keinen Tropfen Alkohol trank und meine Gebete auf Arabisch sprach, wollte mir eines überhaupt nicht einleuchten: das religiöse Verbot von nichtehelichem Sex. Und das lag nicht etwa daran, dass ich damals noch so jung und zügellos gewesen wäre. Ich war einfach der Meinung, dass Sexualität eine gottgegebene Fähigkeit sei, um die Welt körperlich zu erleben und auf andere Menschen zuzugehen. Und wie die Sprache, die sich zum Loben oder zum Fluchen einsetzen lässt, oder unsere Hände, mit denen man töpfern oder zertrümmern kann, ist auch die Lust dem Guten zugedacht, aber ebenso zur bösen Verwendung geeignet.

Ungefähr so könnte man es in religiösen Worten ausdrücken - obwohl viele streng religiöse Menschen es natürlich gerade nicht so sehen. Im säkularen Kontext stellt sich die Frage gar nicht oder zumindest völlig anders: Hier unterscheiden wir zwischen Sittlichkeit und Moral. Zwischen Konvention und ethischer Verpflichtung. Zwischen dem Verhalten, das man von anderen normativ einfordern kann, und dem, was jedem freigestellt ist.

Solche Definitionsversuche werden nicht gerade erleichtert dadurch, dass jede philosophische Schule die Begriffe anders verwendet. Jürgen Habermas zum Beispiel unterscheidet die universalisierbare Moral von einer Ethik privater Lebensführung. Umgangssprachlich dagegen diskutieren wir die medizinethischen Vorschläge des Ethikrats, respektive die Sexualmoral der religiösen Konservativen. Ich bleibe einfach bei dem Paar Sittlichkeit und Moral, wobei nur letztere verpflichtend sein kann, weil es allein ihr darum geht, ob ein anderer verletzt oder geschädigt wird.

Wer diesen Unterschied einmal nachvollzogen hat, für den gibt es kein Zurück. Die Trennung zwischen Sittlichkeit und Moral ist unumkehrbar, und sie verändert auch die Vorstellungen derer, die innerhalb der Moderne religiös bleiben wollen. Es wird nun einmal niemand (automatisch) geschädigt, wenn zwei Leute (einvernehmlich) miteinander Sex haben. Wieso also soll es vor Gott in derselben Weise Sünde sein, unverheiratet zusammenzuleben, wie einen Menschen im Streit zu erschlagen?

Diese Frage stellte ich einmal einem ägyptischen Hodscha, der die Kunst des Predigens in den USA erlernt und von da nach Kairo reimportiert hatte. Mit Powerpoint und in Anzug und Schlips konnte er seither höchst schwungvoll erklären, warum der Koran angeblich für jede noch so winzige praktische Frage des modernen Alltags eine Antwort biete. Und seine Antwort auf die Frage nach dem unverheirateten Sex lautete so: "Da draußen auf dem Parkplatz steht mein Auto. Wenn etwas an dem Auto kaputtgeht, frage ich den Hersteller und lasse es von einem Fachmann reparieren. Denn der Hersteller weiß immer noch am besten, wie mein Auto funktioniert."

Der nichtreligiöse Mensch wird hier einwenden, die Evolution habe zwar den Sexualtrieb, nicht aber die Ehe erfunden. Aber auch wenn man sich bemüht, das Beste aus der Autometapher herauszuholen, lässt sich in dieser Analogie wenig Überzeugungskraft erblicken. Wenn man nämlich mal auf den "Parkplatz" schaut, sieht man, dass der "Hersteller" ziemlich viele verschiedene "Modelle" gebaut hat, und keinem von ihnen hat er eine Bedienungsanleitung ins Handschuhfach gelegt, sondern vielmehr gesagt: "Vertrau darauf, dass der Motor läuft, und fahr nach eigener Entscheidung los!"

Sicher, es gibt Verkehrsregeln. Aber die sollen ja nur Zusammenstöße mit anderen Autos vermeiden: Sie bilden die Moral des Straßenverkehrs. Wohin man fährt, wie oft man zwischendurch zum Picknicken anhält, bleibt davon gänzlich unberührt. Eine wirkliche Moral des Verkehrs würde vielmehr verbieten, dass man innerhalb einer Ehe Sex praktiziert, den nur der eine will und den die andere gegen ihren Willen über sich ergehen lassen muss. Innerhalb einer modernen Moral des Verkehrs wäre es schlimmer, jemand unmäßig anzubrüllen, mit dem man verheirateterweise schläft, als mit jemandem zu schlafen, mit dem man vorher nur drei, aber eben drei freundliche Sätze gewechselt hat.

Denn auch wenn man meint, dass nichtehelicher Sex moralisch neutral ist, kann man die Meinung vertreten: Es gibt beziehungsweise es braucht Sexualmoral. In dem oben angegebenen Sinn von Moral. Allerdings hat es in den letzten Jahrhunderten so viel Kraft gekostet, die alte Sexualmoral (= Sittlichkeit) zu entwaffnen, dass die Bereitschaft für eine neue noch ziemlich wenig entwickelt ist. Zu den allgemeinen Gepflogenheiten scheint wenigstens zu gehören, dass man vor dem ersten Sex mit einem Fremden kundtut, ob man bereits einer anderen Person verbunden ist, und vor dem zweiten, spätestens aber dritten, ob man das Ganze eher auf den Gleisen in Richtung "Beziehung" oder in der Schublade "gute Gelegenheit" eingeordnet sieht. Optional sind das Abschlussgespräch nach einer Reihe solch guter gemeinsamer Gelegenheiten sowie sämtliche Fragen der Verteilungsgerechtigkeit im Bett selbst.

In sonderbarem Kontrast zu diesen weichen Empfehlungen steht die unverbrüchliche Solidarität, auf die jeder hoffen darf, der seinem Partner untreu wird. Seitdem der Seitensprung keine Sünde mehr ist, gilt es umgekehrt als verwerflich, den zur Seite springenden zu "verpetzen". Doch besteht nicht bereits ein Unterschied zwischen der Untreue selbst und dem Zur-Schau-Stellen derselben, wodurch ein ganzer sozialer Mikrokosmos zur Unaufrichtigkeit verpflichtet wird? Unbeteiligte Vierte werden in die Bredouille gebracht: Was soll man tun, wenn ein Kollege, dessen Frau zu Hause das Erstgeborene stillt, auf einer Party mit einer anderen davontanzt? Hätte ich es nicht gesehen, sähe ich mich nicht in der Pflicht. Beginnt der Tanz aber direkt, gar demonstrativ vor meinen Augen, werde ich zur Mitwisserin gemacht.

Wenn ich seine Frau das nächste Mal sehe, ist es mir peinlich. Wenn sie sagt, wie glücklich ihre kleine Familie sei, löst das bei den Umstehenden Beklemmung aus. Wir alle wissen etwas Intimes über diese Ehe, das ausgerechnet einer der Partner selbst nicht weiß. Und wir enthalten ihm oder ihr etwas vor, das er oder sie für die Beurteilung der Beziehung für höchst relevant hielte.

"Unzucht" zu treiben war uns seit der Bibel verboten; das Wort selbst ist aus unserem Sprachgebrauch verschwunden, und die Idee sexueller Sünden hat keinen Platz in einer postkonventionellen Moral. Ein neuer Platz ist dadurch frei geworden: für eine moralische Sensibilität bei all dem, was wir nun mit jedem willigen Partner tun dürfen. Wo immer sich Menschen begegnen, begeben sie sich aufs Gebiet der Moral; wo Moral nötig ist, besteht die Gefahr von Übertretungen. Als Gläubiger mag man einwenden, dass uns auch diese durch Gottes Gebote untersagt sind - allerdings nicht etwa, weil es sich um Verfehlungen gegenüber Gott handelt. Sondern um solche gegenüber einem anderen Menschen.

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Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.

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