Cyberpunk-Autor Willam Gibson: "Obama predigt Transzendenz"

William Gibsons Roman "Quellcode" handelt von der Angst. Der Erfinder des Cyberspace über die Renaissance der Apokalypse, YouTube und die US-Vorwahlen.

Geprägt von Gibson: die Cyber-Generation. Bild: dpa

Warum haben alle Ihre Protagonisten so viel Angst?

William Gibson: Ich habe keine Ahnung. Weder die Charaktere noch ihre Geschichten entstehen, weil ich bestimmte Entscheidungen getroffen habe, was mich vermutlich zu einem nicht besonders interessanten Interviewpartner macht. Sicher reflektieren diese Charaktere einige Aspekte meiner eigenen Persönlichkeit und meine Vorstellungen davon, wie sich Menschen verhalten.

Milgrim, der von einem Agenten namens Brown gefangen gehalten wird, ist die Figur in Ihrem neuen Roman, die am meisten Angst hat.

Insbesondere Milgrim wurde nicht als Ergebnis eines bewussten Prozesses meinerseits ins Leben gerufen. Der Beginn des Buchs funktionierte nicht, ich kam einfach nicht weiter. Ich habe nicht verstanden, wer Brown war, ich konnte mich nicht in ihn hineinversetzen. Dann hatte ich die Idee, das Ganze aus der Perspektive einer neuen Person zu schreiben, von der ich überhaupt nicht wusste, wer sie war. Milgrim trat also durch diese Tür und etablierte sich im Verlauf der wenigen Minuten, während ich das schrieb, auf eine Art und Weise, die es mir ermöglichte, mit der Erzählung voranzukommen.

Milgrim findet Trost in einem Buch, das von apokalyptischen Bewegungen im Mittelalter handelt.

Ich besuchte in New York einen Freund, um meine Eindrücke der im Buch beschriebenen Orte aufzufrischen. Dieser Freund ist ein großer Leser und er fragte mich, ob ich Norman Cohns "The Pursuit of the Millennium" gelesen hätte. Ich müsse das lesen, er habe zwei Exemplare. Ich habe es eher widerwillig angenommen, aber fing doch im Hotel zu lesen an. Cohns Buch wanderte daraufhin sofort in Milgrims Tasche und macht nun einen großen Teil seines Charakters aus. Ich fand es selbst immens tröstlich, es ist ein schönes Buch. Mit ihm lässt sich auf wunderbare Weise unsere Gegenwart verstehen. Aber ich befürchte, dass die Leute gar nicht wissen wollen, dass Autoren so arbeiten.

Der Zufall hat in der modernen Kunst doch immer eine wichtige Rolle gespielt.

Je länger ich schreibe, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass für mich die schwerste Aufgabe beim Schreiben ist, mir selbst aus dem Weg zu gehen. Wenn ich es schaffe, mich für die Dauer meiner Arbeit zu absentieren, dann wird sie besser und findet auch ein größeres Publikum. Texte, in denen ich zu präsent bin, altern dagegen nicht so gut.

Sie beschreiben sich jetzt als Autor ein bisschen wie manche Ihrer Charaktere, die sich mit der afroamerikanischen Kulten beschäftigen. Die funktionieren oft selbst als Medien.

Ich kanalisiere da zwar etwas, aber dieses Etwas bin ich selbst. Zumindest gehe ich davon aus, dass ich das bin. Das ist der Unterschied. Leute, die schreiben, bahnen den Aspekten von sich selbst einen Weg, zu denen sie keinen bewussten Zugang haben. Das ist ein nervenaufreibender Prozess, und es hat lange Zeit gedauert, bis ich mich sicher genug fühlte, das öffentlich zu sagen.

Norman Cohn, über den wir eben sprachen, zeigt, dass sich die Kirche im Gegensatz zu den apokalyptischen Predigern, die die Massen agitierten, recht rational verhalten hat. In Ihrem Buch gibt es einen ominösen alten Mann, der ebenfalls für die guten Seiten der Institutionen steht: "To serve and protect."

Ich würde annehmen, dass der alte Mann gemäß der althergebrachten Standards der amerikanischen Politik zutiefst konservativ ist. Ich habe aber versucht, das im Text nicht besonders zu betonen, weil ich das Gefühl hatte, das würde die Bedeutung dessen schmälern, was er macht. Ich glaube, er denkt tatsächlich, dass die Regierung dafür da ist, den Leuten zu dienen und sie zu beschützen, und dass sie eben nicht in den Händen verrückter Apokalyptiker liegen sollte.

Auch bei den Demokraten scheinen die Rollen diesbezüglich klar verteilt. Clinton steht eher für die Idee, die Institutionen seien verbesserbar, während Obama der charismatische Typ ist, der vom Licht spricht, das von oben kommen wird, wenn er erst Präsident ist.

In gewisser Hinsicht predigt Obama Transzendenz: "Yes, we can." Das heißt aber nicht notwendigerweise, dass Obama ein schlechterer Präsident als George W. Bush sein würde. Ich glaube, dieser Verweis auf Transzendenz ist ein Teil der kulturellen Erfahrung Amerikas. Es braucht immer eine besondere Art von Dunkelheit, um sie zum Vorschein zu bringen, meist ist auch ein Generationswechsel im Spiel. Das Wettrennen zwischen Clinton und Obama wird in 25 Jahren nicht anhand von Hautfarbe oder Geschlecht bewertet werden, sondern unter dem Gesichtspunkt des Alters. Wenn Obama nämlich dieses Rennen gewinnen und zum Präsidenten gewählt werden sollte, dann wird er von Leuten gewählt worden sein, die sehr jung sind. Bei diesen demokratischen Vorwahlen haben sich so viele Leute wie nie zuvor beteiligt. Es ist nicht so, dass die Sixties wiederkommen, Gott bewahre, aber vielleicht ist es eine neue Version davon. Das hat wiederum viel mit dem zu tun, worüber Norman Cohn schreibt.

Sie sind der bekannteste Vertreter des Cyberpunk. Wie wichtig war Punk für Sie?

Ich war schon zu alt, um selbst wirklich daran teilzuhaben. Aber ich habe es genossen, dass nicht nur die Welt der Normalbürger, sondern auch die von Hippieeltern von einer neuen Welle von RocknRoll gestürmt wurde: "Wie kannst du dir nur so einen Schrott anhören?" Diese Ironie ist mir nicht verborgen geblieben. Viele der Sachen, die ich am meisten mochte, wie etwa Patti Smith, werden heute nicht unbedingt zum Punk-Kanon gezählt. Mir ermöglichte Punk aber vor allem, seine Haltung ins Genre der Sciencefiction zu importieren.

Ihre Bücher zeichnen sich durch einen nüchternen, minimalistischen Stil aus, der die Erzählung auf das Notwendigste reduziert. Ist das auch Punk?

Ich sehe meine Texte immer wieder durch. Dieser Revisionsprozess besteht in erster Linie darin, zu streichen. Ich glaube, ich war diesbezüglich früher ängstlicher. Mit der Zeit ist es mir aber immer besser gelungen, mir den Luxus zu gönnen, den Garten ein bisschen mehr zu jäten.

Ich frage mich oft, wer Romane mit 1.500 Seiten lesen will.

Ich glaube, dass die Verlage ihre Autoren dazu ermutigen, dicke Schinken zu schreiben, weil sie glauben, dass die Leute keine schlanken Bücher kaufen wollen. Ich freue mich jedes Mal, wenn Cormac McCarthy einen neuen Roman herausbringt, weil der fast immer noch kürzer als der jeweils letzte ist.

Was finden Sie heute im Netz am faszinierendsten?

Ich denke, das ist YouTube. YouTube als die quasi unerforschbare, riesige und ständig exponentiell wachsende Bibliothek, auf deren Grund man niemals vorstößt. Ab und zu entdeckt einer meiner Freunde mit speziellen Interessen YouTube, und ich werde dann mit Massen von Links zu Videos überschwemmt. Was einen bei YouTube daher am meisten beschränkt, ist das, was einem erst gar nicht zu suchen in den Sinn kommt.

Junge Leute breiten heute im Netz massenhaft intime Details aus. Muss das unsere Gesellschaft nicht radikal verändern?

Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich bin zu alt, um das noch zu verstehen. Das ist das Schicksal jedes Sciencefiction-Autoren und überhaupt des Menschen. Wenn man nur lange genug ausharrt, lebt man irgendwann in einem vollkommen unbegreiflichen Realitätskonstrukt.

INTERVIEW: ULRICH GUTMAIR

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