piwik no script img

Archiv-Artikel

Der Laden, die Bombe, die PKK und der Irak

Im Südosten der Türkei entzündet sich erneut ein „schmutziger Krieg“ zwischen Kurden und Staat

ISTANBUL taz ■ Es scheint, als kehrten im türkischen Kurdengebiet die Geister der Vergangenheit zurück. „Susurluk in Semdinli“ titelten gestern die Zeitungen. „Susurluk“ ist die Chiffre für die Zusammenarbeit staatlicher Sicherheitsorgane mit illegalen Todesschwadronen, die Anfang der 90er-Jahre, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen mit der kurdischen PKK, gezielt Sympathisanten der Guerilla ermordeten. Genau das soll nun in Semdinli passiert sein, einer Kleinstadt im äußersten Südostzipfel der Türkei nahe der irakischen Grenze.

Zeugen behaupten, sie hätten gesehen, wie ein Mann eine Handgranate in einen Buchladen warf, der einem stadtbekannten ehemaligen PKK-Kader gehört. Der Mann sei am helllichten Tag aus einem Auto gesprungen, hätte die Handgranate geworfen und sei dann schnell wieder zu dem Auto gelaufen. Als der Bombenwerfer gemeinsam mit zwei weiteren Personen im Auto verschwinden wollte, wurde ihr Fahrzeug von aufgebrachten Passanten umzingelt, die drei Insassen wurden herausgezerrt. Die wütende Menge fand im Kofferraum Maschinenpistolen. In den Brieftaschen der Männer befanden sich Ausweise, die sie als Mitglieder des Militärgeheimdienstes JIT auswiesen. Wäre nicht uniformierte Polizei dazwischengegangen, die Menge hätte die drei vermutlich gelyncht. Ihr Auto wurde mit Knüppeln und Steinen zertrümmert.

Bei dem Bombenattentat blieb der Besitzer des Buchladens, Mehmet Zahit Korkmaz, unverletzt. Stattdessen starb ein Passant und wurden sieben weitere zum Teil schwer verletzt. Das Attentat fand zu einem Zeitpunkt statt, als die Atmosphäre in Semdinli bereits stark aufgeladen war. Nur eine Woche zuvor hatte die PKK einen Anschlag auf die örtliche Polizeistation unternommen, bei dem über 30 Personen verletzt wurden, darunter auch Passanten. Möglicherweise war der Bombenanschlag auf den Buchladen ein Racheakt örtlicher Geheimdienstler.

Die Reaktion der zivilen und militärischen Verantwortlichen spricht nicht für einen großen Willen zur Aufklärung. Von den drei Verdächtigen wurden zwei nur wenige Stunden nach dem Vorfall wieder freigelassen. Als Reaktion darauf marschierte eine wütende Menge vor das Gebäude der Sicherheitspolizei und griff dieses mit einem Steinehagel an. Polizisten schossen in die Menge und töteten dabei einen Menschen.

Semdinli droht nun zum Funken zu werden, der das Pulverfass im Südosten der Türkei erneut zur Explosion bringen könnte. Seit Anfang Oktober hat die PKK nach einem kurzen Waffenstillstand ihre Überfälle wieder intensiviert. Fast täglich sterben Soldaten und Polizisten durch ferngezündete Minen und direkte Angriffe. Die Armee antwortet darauf mit immer massiveren Vergeltungsschlägen. In der Provinz Hakkari, in der auch Semdinli liegt, herrscht de facto Ausnahmezustand.

Für die türkische Regierung liegt die Ursache der Probleme im Nordirak. Von ihrer Basis dort schickt die PKK Attentäter über die Grenze in die Türkei. Seit langem fordert deshalb Ankara, dass die US-Truppen mit ihren kurdischen Verbündeten im Nordirak etwas dagegen tun.

JÜRGEN GOTTSCHLICH