: Die Realität ist anders
CONTRA Das neue Sorgerecht dient weder der Mutter noch dem Kind
Volles Sorgerecht für ledige Väter, auch gegen den Willen der Mutter. Von Sorgepflicht ist in diesem Gesetz natürlich keine Rede. Hier hat es eine Männerlobby geschafft, das Bild vom treusorgenden Vater zu entwerfen, der von machtgierigen Frauen daran gehindert wird, sich um seine Kinder zu kümmern.
Das ist ein Mythos, die Realität sieht anders aus. Ich habe viele Jahre allein unter Frauen auf Spielplätzen, in Wartezimmern bei Kinderärzten und Elternabenden verbracht. Es gab kaum Männer, die unbedingt am Leben ihrer Kinder teilhaben wollten, auch wenn sie nicht daran gehindert wurden. Die meisten Väter aus der Klasse meiner Tochter sah ich bei der Vergabe der Abi-Zeugnisse zum ersten Mal. Ich könnte Schmerzensgeld verlangen für all die Geschichten, die ich mir von Freundinnen anhören musste: über unzuverlässige Väter, die Termine mit den Kindern absagten, weil sie lieber ins Kino gingen, oder den Unterhalt nicht bezahlten, weil ihre zwei Motorräder so teuer waren.
Schwerer wiegt: Väter – dazu gehören One-Night-Stands und Kurzaffären, also fremde Männer – können sich jetzt in das Leben einer Frau unter dem Vorwand „gemeinsames Sorgerecht“ einmischen. Sie können jeden Arztbesuch des Kindes torpedieren, die Schulwahl mitbestimmen. Nicht mal ein Konto für das Kind kann eine Mutter ohne den Vater eröffnen. Er kann verhindern, dass die Mutter mit dem Kind aus beruflichen Gründen in eine andere Stadt zieht. Ein Gesetz, das dem Vater Rechte gegen den Willen der Mutter zugesteht, die ihr eigenes Leben einschränken, dient wohl kaum dem Kindeswohl. ISABEL LOTT