: „Ihre Seele war weit weg“
ERINNERN ODER VERDRÄNGEN Nele Lipps Großmutter Clara Benthien sang in ihrer Hamburger Künstlerkneipe Moritaten und verhalf im Hinterzimmer Juden zur Flucht vor den Nazis. Jetzt hat die Tanz-Performerin Lipp ihrer Oma eine Ausstellung gewidmet
■ 54, Schauspielerin, Kunstpädagogin, Künstlerin und Tänzerin.
■ 1992 bis 2000 war sie Dozentin für Tanzgeschichte an der Hamburger Lola Rogge Schule.
■ 1995 gründete sie die interdisziplinäre Transformance-Company Koinzi-Dance.
■ 2008 bis 2010 forschte sie über Kultur der 1920er Jahre und organisierte eine Ausstellung dazu.
■ 2013 wird sie ihre Promotion – die erste an Hamburgs Hochschule für bildende Künste – abschließen. Sie besteht in einem auf vier Bände angelegten interdisziplinären Tanz-Lexikon.
INTERVIEW PETRA SCHELLEN
taz: Frau Lipp, haben Sie als Kind viel mit Ihrer Großmutter gelacht?
Nele Lipp: Bestimmt. Aber das ist nicht meine prägnanteste Erinnerung.
Sondern?
Dass es trotz allem eine gewisse Distanz gab, die ich mir damit erkläre, dass meine Großmutter traurig war. Denn ihr Lebenswerk, ihre Künstlerkneipe, die sie über 20 Jahre aufgebaut hatte, hatte der Krieg vernichtet. Sie hat in den 50er Jahren noch einen Wiederbelebungsversuch gemacht, aber das hat nicht funktioniert. Direkt neben der Arztpraxis meines Vaters konnte man keine Moritaten singen. Stattdessen sehe ich sie Briefmarken sortierend dasitzen – ganz anders als auf den alten Fotos.
Sie haben, bis Sie zehn Jahre alt waren, das Zimmer mit ihr geteilt.
Ja, und das war vollgestopft mit Dingen, die sie aus ihrer Kneipe gerettet hatte – Bilder und Skulpturen etwa, die die Künstler ihr geschenkt hatten. Und ich weiß auch noch, wie diese riesige Frau ihre langen Haare kämmte, sie hinter sich warf und ins Bett ging. Ich weiß aber nicht, ob sie mir Märchen vorgelesen hat. Sie war ein lieber Mensch. Aber nicht jeder Künstler ist auch Pädagoge.
Lebte sie in der Vergangenheit?
Damals verstand ich das nicht, aber heute würde ich sagen, ihr eigentliches Leben war woanders. Sie war körperlich anwesend, aber ihre Seele war weit weg.
Hat sie das ausgesprochen?
In unserer Familie war ständig von der Vergangenheit die Rede. Zum Beispiel davon, dass mein Vater tagelang verschüttet war und dann gerettet wurde. Oder von der zerbombten Kellerkneipe meiner Großmutter. Außerdem wohnten bei uns im Haus Leute, die früher in der Kneipe verkehrt hatten: eine Modistin, ein Drehorgelmann. All diese Geschichten waren präsenter als der Alltag.
Kamen auch andere einstige Kneipengäste zu Besuch?
In der Praxis meines Vaters lebte der Künstlerkeller letztlich schon weiter: Die Leute waren älter geworden und ein bisschen kränker und suchten meinen Vater als Arzt auf. Danach tranken sie dann bei uns im Wohnzimmer Kaffee.
Und wo waren Sie?
Ich saß als Kind unter dem Tisch und hörte immer vom „Keller“ reden, konnte mir das aber nicht erklären. In unserem Keller lagen ja Kohlen. Erst viel später habe ich verstanden, dass sie von früher sprachen.
Hat Ihre Großmutter nach 1945 resigniert?
Ja, aber sie hat es nicht so direkt ausgesprochen. Sie war aber immer ernst und hat gar nicht erzählt, wie lustig es damals auch war. Sondern nur, wie schrecklich die Judenverfolgung gewesen war. Dieses lustige Getobe in ihrer Kneipe war schon eine Form, das zu übertünchen. Denn da gab es ja dieses Hinterzimmer, in dem mein Großvater seine Freimaurer-Freunde traf, was seit 1935 verboten war. In diesem Raum haben meine Großeltern auch Juden zur Emigration verholfen.
Auf welche Art?
Ich weiß es nicht genau. Aber unter den Freimaurern waren auch Leute von Hamburger Banken. Die haben vermutlich Wege gefunden, das Geld der Juden ins Ausland zu transferieren, ohne dass die Nazis es abgegriffen haben.
War Ihre Großmutter ein politischer Mensch?
Nicht im heutigen Sinne – grundsätzlich, regelmäßig und organisiert. Sie half eher aus der Alltagspraxis heraus. Meine Großeltern waren handfest und bodenständig – aber man kann nicht sagen, dass sie ihr Leben politisch ausgerichtet hätten. Sie waren lebenslustig und hatten keine Angst zu helfen.
Aber in der Kneipe verkehrten auch Nazis.
Ja, das kann man auf den Fotos sehen.
Hat Ihre Großmutter sich nicht abgegrenzt?
Nein. Die Nazis rauszuwerfen wäre lebensgefährlich gewesen. Außerdem gab es ein Warnsystem: Wenn Nazis kamen, pfiff der Türsteher den Refrain aus der Moritat „Die Verdunkelung“. Er lautet sinngemäß: Trau niemals der Verdunkelung, denn es könnte einer hinterm Baume stehn, der zuhört und zuguckt.
Und die Nazis schöpften nie Verdacht?
Vermutlich schon. Ich nehme aber an, dass es darunter Leute gab, die die Kneipe schätzten und ein Auge zudrückten. Anders ist nicht zu erklären, dass das nicht aufflog.
Wann haben Sie begriffen, was Ihre Großmutter leistete?
Nach und nach. In meiner Jugend war ich des Themas überdrüssig. Und als meine Großmutter starb, haben meine Eltern ihr Zimmer ausgeräumt und die Sachen auf Dachboden, Keller, Schränke verteilt – weggedrückt gewissermaßen. Aber das ist ja manchmal so: Dass erst die erwachsenen Enkel solche Dinge wieder interessant finden. Und so hab ich diese Sachen in den letzten Jahren hervorgeholt.
Wurde Ihre Großmutter überhaupt schon gewürdigt?
Bis auf einen Zeitungsartikel von 1958 nicht.
Warum nicht?
Es hat sich niemand engagiert. Und meine Mutter sagte immer, es sei vielleicht besser so.
Warum?
Wegen dieser Judengeschichte. Sie hatte Angst.
Vor dem fortbestehenden Antisemitismus?
Das ist der Grund, warum auch ich mir Gedanken gemacht habe. Ich habe das als Regel mitbekommen.
Was genau?
Nichts zu erzählen.
Von den Rettungen?
Ja.
Deshalb zögerten Sie, die jetzige Ausstellung zu machen?
Ja. Aber dann dachte ich: Gerade deshalb ist es jetzt an der Zeit.
Sie machen ja nicht nur Ausstellungen, sondern auch Tanz-Performances und wehren sich gegen Genre-Grenzen. Warum?
Weil ich glaube, dass die Künste, wenn sie im Verein erscheinen, kräftiger sind. Sie treffen den Menschen stärker, weil sie mehrere Sinne ansprechen. Das Auseinanderdividieren der Künste hat sich ja erst mit dem Kapitalismus entwickelt. Denn wenn ich sage „Das ist Musik“, kann ich es besser verkaufen als etwas Verwobenes wie eine genreübergreifende Performance.
Seit wann genügt Ihnen der pure Tanz nicht mehr?
Seit ich in den 80er Jahren an einem Workshop über Butoh – einen japanischen Ausdruckstanz – teilgenommen habe. Da bin ich abends nach Hause gefahren und habe die ganze Nacht gezeichnet. Am nächsten Tag dann wieder zum Tanz. Irgendwann habe ich bemerkt, dass das eins ist, dass ich mit der Energie, die mich tanzen lässt, auch zeichnen kann.
Was haben Sie gezeichnet?
Landschaften und Menschen, die sich miteinander verbinden.
Also nicht den Tanz, den Sie erlebt hatten.
Nein, nichts Aktuelles, sondern eher etwas, das dieses Energetische nochmal aufs Papier brachte.
Das wäre dann so etwas wie ein energetisches Gesamtkunstwerk.
Ich würde es eher Crossover oder Live Art nennen – gespeist aus der Idee, dass letztlich jede Handlung auch Kunst ist. Ich habe das dann später mit Studenten weitergesponnen: zu tanzen, dann zu zeichnen und aus den Zeichnungen Pappmaché-Masken modellieren – für Gesicht, Arme und Hände. Die haben wir dann angelegt und daraus ein Tanzstück entwickelt. Dabei haben die Masken bewirkt, dass man zum Beispiel an der Schulter fixiert war und sich dann auch noch nur eingeschränkt bewegen konnte. Dadurch wiederum bekam der Tanz etwas Fixiertes – wie bei einer Skulptur oder Zeichnung.
Womit man wieder beim Ausgangspunkt wäre. Ist das Ganze eine Kreisbewegung?
Eher eine Suche.
Wonach?
Nach dem Wesen der Kunst.
Ist das auffindbar?
Nein.
Also ist die Suche die Lust?
Ja.
Ausstellung „Treffpunkt bei Tante Clara. Hamburgs Sphinx. Ein Mikrokosmos des kulturellen Lebens 1928-1944“: Hamburgs Staats- und Universitätsbibliothek, Von-Melle-Park 3, geöffnet noch bis zum 3. März, Mo-Fr 9-21 Uhr, Sa/So 10-21 Uhr