Filmstart "Lenin kam nur bis Lüdenscheid": Dann war das Geld weg
Sentimental Journey: Der Film "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" von André Schäfer und Richard David Precht erzählt eine linke Kindheit in der BRD.
Die Kindheit ist unter anderem auch das: ein Reich von Illusionen, deren Verlust zu den Traumata einer jeden Biografie gehört. Je mehr man sie überwunden hat, als umso erwachsener gilt man. Es beginnt mit dem Nikolaus, der auf einmal wie Onkel Karl aussieht, und hört noch lang nicht auf, wenn man entdeckt, dass Cowboys und Indianer sich im Fernsehen nicht wirklich erschießen. In der Rückschau betrachtet, ist es eine kuriose Mischung aus Angstmärchen und Ideologien, an denen man als Kind festhält. Etwa dass einem ein Kirschbaum im Bauch wächst, wenn man einen Kirschstein verschluckt hat. Oder dass alle Amerikaner böse sind - mit Ausnahme der Schwarzen.
Mit den letzten Beispielen beginnt in "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" Richard David Precht seinen Rückblick auf die eigene Kindheit. Der Dokumentarfilm von André Schäfer adaptiert Prechts gleichnamiges Buch, und so kurios das klingt, ist es auch: Man sieht den Autor vor der Kamera mit Geschwistern und anderen Zeitzeugen reden. Zwischendurch gibt es Archivmaterial mit historischen Ereignissen wie Walter Scheel, der bei Wim Thoelke "Hoch auf dem gelben Wagen" singt, und Super-8-Aufnahmen von kleinen blonden Kindern, über deren Herkunft man nichts Genaues weiß. Der Film ist weniger Dokumentation als sentimental journey in das untergegangene Reich von Prechts DKP-geprägten Kindheitsillusionen. Jede Kindheit sei anders, seine aber sei anders anders gewesen, rechtfertigt sich der Autor dafür aus dem Off.
Die normalen Kinder durften Coca-Cola trinken und ins Phantasialand fahren, für Precht und seine vier Geschwister waren das Tabus. Deren Zusammensetzung war ungewöhnlich: Prechts Eltern adoptierten kurz hintereinander zwei Kinder aus Vietnam; es war ihre Art, sich gegen den Krieg zu engagieren. Prechts Bruder Marcel will heute seinen Adoptiveltern nichts vorwerfen, selbst würde er allerdings nie ein Kind adoptieren. "Du kannst dir dieses Gefühl von Entwurzelung nicht vorstellen!", erzählt er seinem Bruder. Viel mehr gibt es zu diesem Thema leider nicht. Es ist nicht die einzige Stelle, an der man sich wünscht, dass Precht weniger ausschließlich Nabelschau betreiben würde. Andererseits ist es gerade die Konzentration auf das eigene verlorene Geistesuniversum, die den besonderen Witz von Film und Buch ausmacht. Etwa wenn er sich zusammen mit der Schwester an die schmuddelige Ungemütlichkeit ihres Heims erinnert. Oder wenn sie gemeinsam ein "antiautoritäres" Kinderbuch betrachten und sich vor dem Foto einer wilden Eltern-Kinder-WG eingestehen, dass sie in Wahrheit Angst hatten, so leben zu müssen.
Die wildesten Auswüchse, die das politische Engagement der Eltern im Kopf ihres Sohnes bewirkte, schildert eine Erzählstimme aus dem Off, deren betont naiver Ton zunehmend stört. Ganz so skurril, wie es der Film darstellt, war es schließlich gar nicht, für Oleg Blochin und "Dünnammo" Kiev zu fiebern und den 1:0-Sieg der DDR über die BRD bei der WM 1974 zu bejubeln. Skurril war vor allem, dass man es den Eltern und ihrer "Weltanschauung" zuliebe tat.
Trotz dieser Einschränkung ist es ein Film voll anregender Fundstellen aus der heute verdrängten Geschichte der 70er-Jahre in der BRD geworden. Da erzählt ein ehemaliger DKP-Kreisvorsitzender davon, wie man damals einen aus dem Gefängnis entlassenen Kleinkriminellen namens "Tarzan Möbelpacker" bewusst zum Kassenwart machte: "Ein paar Monate ging das gut, dann war er mit dem Geld weg." Man muss nicht Kind einer DKP-Familie gewesen sein, um an Stellen wie diesen Trauer um Illusionen zu empfinden, die man sich schon lange nicht mehr macht.
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