Wieso Russland gegen Holland gewann: Die Geburt einer großen Mannschaft

Eine Mannschaft im Kombinationsfußballrausch: Der russische Erfolg ist keine Fügung, kein Zufall und längst nicht nur Arshavin zu verdanken.

Die Russen stapeln sich nach dem 2:1 am Spielfeldrand. Bild: ap

Besser als alle Worte erklärt ein Vorfall nach Dimitri Torbinskis Tor den neuen russischen Fußballzauber. Der Torschütze sprintete nach seinem Treffer zum 2:1 (112.) jubelnd zur Außenlinie, alle Feldspieler und die meisten Kollegen von der Ersatzbank warfen sich übereinander, ein großer Haufen russischer Körper lag in der Ecke des Spielfeldes, nur einer trabte gemächlich mit gesenktem Blick zur Mittellinie. Dieser einsame Spieler war Andrej Arshavin, der russische Star. Er war mit dem Ball am Fuß aus der eigenen Hälfte bis zur Grundlinie gesprintet, hatte André Ooijer ausgespielt und eine perfekte Flanke geschlagen. Torbinski musste nur noch den Fuß hinhalten.

Nicht nur sein Erfolg, aber seiner auch: Die russische Zehn, der nicht vom Ball zu trennende Arshavin. Bild: ap

Natürlich wusste Arshavin, dass dieser Treffer zuallererst seiner Dribbel- und Flankenkunst an der Außenlinie zu verdanken war. Er zog es aber vor, sich mit diesem Wissen still und einsam zu freuen. Dort häufte sich das Kollektiv, dessen Harmonie an die besten Zeiten des sowjetischen Kombinationsfußballs erinnerte, hier trabte der Superstar, der das neue Russland repräsentiert. Der Exzentriker, der die Ungleichheit und die Kaste der Neureichen verkörpert. Arshavin ist nicht nur Fußballer, er besitzt auch ein Modelabel, ist in der Politik aktiv, und er war der beste unter lauter tollen russischen Spielern.

Bei dieser EM ergeben diese Ingredienzen einen neuen Geheimfavoriten auf den Titel. Es waren keine glücklichen Fügungen, keine Zufälle und erst in zweiter Linie die Schwächen der Holländer, aufgrund derer Russland nun im Halbfinale steht. Der Trainer, der Niederländer Guus Hiddink, traute sich nach der total überlegen geführten Verlängerung kaum, die Wahrheit zu auszusprechen. "Ich weiß nicht, ob ich es realistisch sehe", begann er vorsichtig, "doch mein Team war heute technisch überlegen, in der Ballkontrolle überlegen, physisch überlegen und auch taktisch deutlich besser als unsere Gegner."

Niemand konnte ihm widersprechen. Seine Mannschaft ist sehr jung, jünger als alle anderen EM-Teams, dieser Auftritt war daher eine große Verheißung für die Zukunft. Vielleicht sogar für die sehr nahe Zukunft.

Die Spieler wollen nun selbstredend mehr. "Wir wollen ins Finale", verkündete Diniyar Bilyaletdinov. Und nachdem Arshavin in der 116. Minute mit seinem Treffer zum 3:1 den Endstand hergestellt hatte, da verzichtete er erneut auf den großen Gefühlsausbruch und legte statt zu jubeln den Finger auf den Mund, als wolle er sagen: "Wartet nur, wir haben noch viel mehr zu bieten." Und etwas später verkündete er grinsend: "Heute hat der bessere Holländer gewonnen."

Einziger Hollander auf Seiten der Russen: Trainer Guus Hiddink. Bild: ap

Er meinte seinen Trainer. Hiddink ist bekanntlich Niederländer, und er gab das Kompliment postwendend zurück: "Abwehrspieler können mit Arshavin mitlaufen, aber sie finden nie einen Moment, ihn anzugreifen, das ist, was die Natur ihm mitgegeben, er ist ein natürlicher Gewinner". Diese Eigenschaft teilen der Trainer und sein Star.

Obgleich Hiddink die russischen Potenziale kennt, wirkte er ein wenig überrascht angesichts der fantastischen Leistung seiner Jungs. "Ich habe keine Spieler, die Champions-League-Level gespielt haben, für mich ist es selbst immer wieder erstaunlich zu beobachten, dass diese Mannschaft unglaublich schnell die internationalen Regeln dieses Spiels lernt", sagte er.

Die großen Fußballinnovationen werden in der Champions League generiert. Es bleibt eines der großen Rätsel, wo diese Russen ohne Anbindung an diese Liga diesen hochmodernen Hochgeschwindigkeitsfußball herhat. Arshavin führte Zenit St. Petersburg jenseits davon zum Uefa-Cup-Sieg.

Hiddink war es wichtig, nicht nur über Arshavin zu sprechen. Yuri Zhirkov, seinen linken Mann in der Viererkette, nannte Hiddink "einen der besten, den es auf dieser Position in Europa gibt". Er lobte die taktische Intelligenz Ivan Saenkos, der als einziger Nationalspieler im Ausland spielt (derzeit noch beim 1. FC Nürnberg), und er freute sich über das bereits dritte Turniertor des wunderbaren Stürmers Roman Pavlyuchenko. Die Ballsicherheit, die Präzision, das Tempo, die technische Fertigkeit und die Physis der Russen sind an diesem Abend zu einem neuen Maßstab verschmolzen. Diese Kombination muss nun erstmal einer schlagen, zumal Russland im Gegensatz zu den Holländern ein perfektes Timing für den Turnierverlauf gefunden zu haben scheint. Es klingt zunächst etwas nüchtern, wenn Ivan Saenko sagt: "Das ist einfach guter Fußball." Aber vielleicht ist das der größte Superlativ.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.