Debatte Leben ohne Rohstoffe: Glück vom Konsum abkoppeln

In Europa haben wir vor 40 Jahren mit einem Viertel des heutigen Energieumsatzes pro Person ziemlich gut gelebt. Dahin müssen wir zurück.

An unendliches Wachstum in einer endlichen Welt glauben nur Verrückte und Ökonomen (Kenneth Boulding, Ökonom, 1910 bis 1993)

Die Konsumbedürfnisse werden weltweit wachsen - und damit die Umweltbelastungen. Einmal mehr soll die Technik das Problem lösen. Versucht wird die Quadratur des Kreises: "Maschinen arbeiten für das Wachstum", schreiben die VDI-Nachrichten.

Dass just dieses Wachstum das Problem sein könnte, wird immer noch verdrängt, obgleich schon das EU-Weißbuch 1993 auf unser falsches Entwicklungsmodell aufmerksam machte: Wir rationalisieren seit 200 Jahren in ungebremstem Tempo, ersetzen menschliche Arbeitskraft durch Energie- und Rohstoffaufwand und handeln uns damit Arbeitslosigkeit und Umweltkrise gleichzeitig ein. Zudem pflegen wir einen Innovationswahn: Statt die Technik auf die wesentlichen Lebensbedürfnisse zu beziehen, erfinden wir laufend neue Spielzeuge. Um diese dann zu vermarkten, werden bis dahin nicht existierende Bedürfnisse durch die Werbung neu erzeugt.

Ein Beispiel ist der Fetisch Auto. Ein Pkw setzt nur 10 bis 15 Prozent des Sprits in Fahrleistung um und transportiert mit einem Gewicht von 1,5 Tonnen lärmend durchschnittlich 150 Kilo - zum "Fahrspaß". Autos binden etwa 20 Prozent der Ingenieurskapazität und sind für einen großen Teil der inzwischen lebensgefährlichen CO2-Emissionen verantwortlich. Seit 1990 steigt die Zahl der Pkws auch in den "Schwellenländern" rasant an.

Jetzt suchen wir nach technischen Patentlösungen, die diesen Lebensstil auf 6,5 Milliarden Menschen übertragbar machen sollen. Die Liste reicht von der CO2-Abscheidung über Atom- oder Fusionsreaktoren, wasserstoffbetriebene Autos und Flugzeuge bis hin zur Nano- und Gentechnologie. Erwartet werden, wie fast täglich in den Medien vorgeführt, technische Wunder. Unsere "Wunder der Technik" aber sind das Ergebnis einer beispiellosen Verschleißwirtschaft. Sie basieren auf fossilen Energieressourcen und unbegrenzter Vermüllungsbereitschaft. Doch selbst auf dieser Basis hat die Technik ihre Versprechen nicht gehalten: Weder haben wir die "Dematerialisierung" durch IT-Technik - dem "papierlosen Büro" fallen mehr Bäume zum Opfer als je zuvor - noch die 4.000 Kernreaktoren, die uns im Jahre 2000 gefahrlos Strom im Überfluss liefern sollten. Vom versprochenen Glück durch immer mehr Konsum nicht zu reden.

Wir ignorieren diese Desaster, indem wir uns politisch einer Wachstumsökonomie unterwerfen, die sich unter dem Stichwort "Globalisierung" als eine Art Naturgesetz anpreist. Sie deklariert die fossile Dinosaurier-Technik weiter zum Problemlöser und nimmt den Erfindungsgeist von Ingenieuren als Geisel: Sie sollen unter ständig steigendem Kostendruck Techniken erfinden, die uns das Weiterfeiern der Party ermöglichen. Leider machen die meisten da immer noch eifrig mit - und verdienen gut daran. So basteln wir uns eine Wirklichkeitskonstruktion, die Paul Watzlawick als "Wirklichkeit zweiter Ordnung" bezeichnet. Die kapitalistische Wachstumswirtschaft wurde uns durch jahrzehntelanges propagandistisches Trommelfeuer als einzig mögliche dargestellt - sich ihr anzupassen, erscheint als "Realismus". Wettbewerb, Rendite etc. werden als alternativlose Antriebsmechanismen vorausgesetzt. Damit wird die Welt in unseren Köpfen so "gestaltet", dass - wie Orwell es in "1984" formuliert - "alle anderen Arten zu denken unmöglich gemacht werden". Die "Wirklichkeit erster Ordnung", also die physikalisch-ökologische, wird verdrängt. Jetzt holt sie uns ein.

Wo liegt der Ausweg? Abgesehen von der nötigen intellektuellen Dekonstruktion des Neoliberalismus geht es darum, echte Alternativen in Ökonomie und Technik zu finden - und zwar jenseits der Gebetsmühle, sie müssten sich "rechnen". Kenneth Boulding hat dafür eine schöne Metapher geprägt: Wir brauchen eine "Raumfahrer-Ökonomie", die mit begrenzten Ressourcen arbeitet. "Fortschritt" ist damit jene soziale und technische Innovation, die die Vorräte weitgehend unangetastet lässt und den Verwertbarkeit erhöht. Also: Weniger Produktion und weniger Verbrauch - bei gleichzeitig besserer Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse. Das unterscheidet sich fundamental von der kapitalistischen "Cowboy-Ökonomie" (Boulding), die neue Claims erobert, abgrast, vollmüllt und weiterzieht.

Für die Technik benötigen wir einen radikalen Paradigmenwechsel: Ingenieure arbeiten dann nicht oder kaum an neuen Produkten, die den vorhandenen hinzugefügt werden. Vielmehr sind sie vor allem damit befasst, bestehende, verallgemeinerbare und verantwortbare Systeme durch Pflege, Erneuerung und Wiederverwendung dem jeweiligen sozialen und natürlichen Kontext anzupassen und ökologisch ungeeignete Systeme zu entfernen. Jede neue technische Lösung ist erst dann akzeptabel, wenn andere Lösungen nicht möglich sind.

Wie das geht, ist weitgehend bekannt. Beispiele sind systematisches Remanufacturing zur Wiederverwendung von IT-Hardware, Elektrogroßgeräten etc., dezentrale erneuerbare Energiewandlung für den regionalen Bedarf, Mobilitätskonzepte im Wechsel zwischen öffentlichen Netzen und individuell angepassten Fahrzeugen auf Elektro-Basis mit über 90 Prozent Wirkungsgrad, Kreislaufsysteme für alle Techniken, die stoffliche Ressourcen nutzen. Diesen Systemen wird jeweils die geeignete Ökonomie mitgegeben, wie zum Beispiel die "Mikro-Finanzierung" von "Solar Home Systems" nach dem Modell des Nobelpreisträgers Yunus für Menschen ohne Netzanbindung (Micro Energy International).

Das erfordert auch kulturell, sozial und ökonomisch eine zweite industrielle Revolution und einen Ausgleich der Ressourcennutzung zwischen heute "reichen" und "armen" Ländern. Damit werden wir in den "Industrienationen" viele Gewohnheiten aufgeben müssen, insbesondere unsere Verwechslung von Glück mit ständig steigendem Konsum.

Diese Revolution ist nicht einfach und verlangt Ein- und Weitsicht. Doch schließlich haben wir in Europa vor etwa 40 Jahren mit einem Viertel des heutigen Energieumsatzes pro Person ziemlich gut gelebt - dieser Wert von permanent etwa 1,5 kW ist global für 6,5 Milliarden Menschen verallgemeinerbar. Kombiniert mit einer Technik auf dem heutigen Stand unserer Fähigkeiten und jeweils angepassten solidarischen und reproduktiven Ökonomien lässt sich so ein "gutes Leben" sehr wohl organisieren. Die Alternative: Im "Wettbewerb" um die größten Fetische kämpfen alle gegen alle um die schwindenden Ressourcen - so wie die Bewohner der Osterinseln. Sie gingen im 17. Jahrhundert nach 600 Jahren unter, weil ihre Eliten zu blöde waren, die natürlichen Grenzen ihres Territoriums mit ihrer Lebensweise zu vereinbaren. Bei fortgesetzter Ignoranz dürfte unsere Industriegesellschaft den Kollaps bereits nach etwa 300 Jahren erleben. WOLFGANG NEEF

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