Neue Arten in der Nordsee: Vielfraßqualle aus Mexiko

Klimawandel und Globalisierung bescheren dem Wattenmeer derzeit einen atemberaubenden Zuwachs an exotischen Arten. Experten sehen das mit Faszination und Sorge.

Nicht nur Schwimmer freuen sich wenig über Quallen - auch Meeresbiologen sorgen sich. Bild: dpa, Oceana/Juan_Cuetos

Der Einsiedlerkrebs, die Schwimmkrabbe, die Rippenqualle - wer Urlaub an der Nordsee macht, kannte diese Tiere. Aber ab sofort ist alles anders. Neuerdings gilt die Pluralform: die Einsiedlerkrebse, die Schwimmkrabben und die Rippenquallen. Außerdem heißt es Ottermuschel, Felsenkrabbe, Pinselkrabbe und Schwarzgrundel, Japanischer Knötchentang und Keulen-Seescheide.

Wer diese Arten in seinem Strandführer nachschlagen möchte, wird bald merken, dass alle Bestimmungsbücher der Nordseeküste ab sofort Makulatur sind: die Geschichte hat sie überholt. Klimawandel und Globalisierung bescheren dem Wattenmeer derzeit einen atemberaubenden Zuwachs an "neuen" Arten. Seit die Winter an der Küste nicht mehr richtig kalt werden, können sich hier Arten ansiedeln, die bisher im Watt nicht überlebensfähig waren. Fast zwei Grad ist die Nordsee im Winter wärmer als früher. Für Meerestiere ist das eine Menge. Schon vor zehn Jahren war vorausgesagt worden, dass eine solche Erwärmung unserer Küste etwa zwanzig Prozent neue Arten bescheren würde. Nun ist die Bescherung da.

Mit einer Mischung aus Faszination und Sorge machen sich Meeresbiologen und Wattführer derzeit fast monatlich mit neuen Tier- und Algenarten bekannt. Der Diogenes-Eisiedler wird schon bei 0,7 Millimeter Panzerlänge geschlechtsreif - hoppla! Die Japanische Felsenkrabbe frisst auf Felsgrund 80 % der jungen Strandkrabben weg - autsch! Die Mexikanische Vielfraßqualle hat im Schwarzen Meer die Heringsfische um 90 % reduziert - oh oh! Aber dafür leuchtet sie nachts wunderschön, wenn man badet.

Die Einwanderungswege der neuen Arten sind verschieden: Einige kommen aus der südwestlichen Nordsee und breiten sich im Zuge der Erwärmung ganz natürlich mit der Meeresströmung im Flachwasser aus. In diese Gruppe gehören die Plattfußkrabbe, der Diogenes-Einsiedler und die Ottermuschel. Auch ein Vordingen aus der tieferen, schon länger frostsicheren Nordsee bis in das Wattenmeer kommt vor, zum Beispiel bei Schwarzgrundel und Kleinem Petermännchen, zwei Fischarten.

Dramatischer sind Einschleppungen aus fernen Ozeanen, da die Exoten beim Zusammentreffen mit der hiesigen Fauna ungeahnte Effekte hervorrufen können. Fieberhaft forschen Fischereibiologen in Kiel und anderswo an der Mexikanischen Vielfraßqualle, um herauszufinden, ob sie in Nord- und Ostsee die Fischbestände ebenso verheeren kann, wie sie es nach ihrer Einschleppung im Schwarzen Meer getan hat. Rückgängig machen lässt sich ihre Einschleppung allerdings nicht mehr. Wer derzeit in der Nordsee baden geht, trifft in fast jedem Kubikmeter ein oder zwei der neuen Rippenquallen an.

Das Ökosystem Wattenmeer hat sich in der Vergangenheit als recht tolerant gegenüber Einschleppungen erwiesen. Schwertmuschel, Pantoffelschnecke, Beerentang und Wollhandkrabbe stehen selbstverständlich in allen Bestimmungsbüchern und haben sich störungsarm integriert. Die Sandklaffmuschel haben sogar schon die Wikinger eingeschleppt. Nun kommt jedoch die Meereserwärmung als neues Phänomen hinzu, und die Globalisierung mit Muschelimporten und Schiffsverkehr bringt immer öfter neue Arten an unsere Küste.

Die Pazifikauster, die täglich vielen Wattwanderern einschneidende Erlebnisse an den Fußsohlen beschert, ist ein Beispiel für eine neue Art, die den Lebensraum nachhaltig verändert. Sie besiedelt zu Millionen die Wattflächen, wo früher Miesmuscheln lebten. Nur leider können weder Vögel noch Krebse die Auster fressen. Außerdem erschwert sie wahrscheinlich der Miesmuschel, die durch die warmen Winter geschwächt ist, eine Wiederausbreitung im Wattenmeer. Geschädigt sind damit die Vögel, die an die Miesmuschel als Futter angepasst waren und nun eine schlechtere Nahrungsgrundlage im Watt finden. Die neuen Arten taugen oft nicht als Futtertier für heimische Tiere, vor allem nicht für spezialisierte, empfindliche Arten.

Die Zukunftsperspektive für die Nordsee und die Nationalparks im Wattenmeer ist ungewiss: Die Artenvielfalt wird definitiv weiter zunehmen, was für Wattwanderer und spielende Kinder durchaus eine Bereicherung sein kann. Der Diogenes-Einsiedler ist ein gar putziges Kerlchen, und kein heimisches Meerestier verursacht so helles Meeresleuchten wie die Vielfraßqualle. Falls eine giftige Alge oder Qualle eingeschleppt wird, könnte sich allerdings die Belustigung schnell in Schrecken und finanzielle Einbrüche verwandeln. Die aktuelle Quallenplage im Mittelmeer gibt eine Ahnung hiervon.

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