Debatte SPD-Kurs: Rechts und Links lebt

Die aktuelle Krise der SPD hat viele Gründe. Zu bekämpfen ist sie nur, wenn der nebulöse "Weg der Mitte" aufgegeben und das linke Profil der Partei geschärft wird.

Wer über die Krise der SPD redet, darf die des Parteiensystems nicht übersehen. Diese Krise beschränkte sich nicht nur auf Deutschland. Es gibt sie in Italien, in Frankreich und Großbritannien, in Österreich und den Niederlanden. Äußere Merkmale sind Mitgliederschwund und notorisch sinkende Wahlbeteiligung. Die Basis ist flüchtig geworden.

Soziologische Gründe dafür liegen in der Auflösung sozialer Milieus und in der Entstehung eines neuen abgehängten Prekariats (was man früher "Lumpenproletariat" nannte). Sie liegen aber auch in einer rein ökonomistisch dressierten neuen Businessschicht und in stark individualistisch ausgerichteten hedonistischen Lebensformen. Werbepsychologen und audiovisuelle Medien prägen eine "Kultur des Narzissmus", treffend beschrieben etwa von dem amerikanischen Soziologen Christopher Lasch.

Politische Gründe liegen in der neuen Ideologie der Ideologiefreiheit; als gäbe es keine unterschiedlichen Werte und Interessen mehr, sondern nur noch scheinbar neutrale Sach- und Kostenzwänge. Scheinbar gibt es nur noch gute oder schlechte Politik, aber keine sozialdemokratische oder christdemokratische Politik mehr. Der Eindruck von Unterschiedslosigkeit und praktischem Konformismus unter den Parteien verfestigt sich. Ihre dennoch anhaltenden Kontroversen erscheinen daher aufgesetzt. Für Parteien, die nichts Wesentliches ändern wollen, mag das genug sein. Für sozialdemokratische Parteien, von denen immer wieder neu herzustellender sozialer Ausgleich und zukunftsgewisse Perspektiven versprochen und erwartet werden, ist das verheerend.

Die Verhältnisse einer sich spaltenden Gesellschaft inmitten existenzieller Gefährdungen von Lebenssicherheiten, einschließlich neuer internationaler Konflikte und sich häufender Umweltkatastrophen, stehen in zunehmendem Widerspruch zur gegenwärtigen Performance sozialdemokratischer Parteien. Gegen die gesellschaftliche Macht der "Millionäre" hilft auch heute nur die potenzielle Macht von Millionen Menschen mittels des Mediums demokratischer Mehrheitsentscheidung. Indem sich aber eine Entfremdung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten vollzieht, trifft das die SPD besonders. Der wohlfeile Ausweg in die "neue Mitte" wird zum Holzweg, egal ob die soziologische oder eine politische Mitte gemeint ist. Erstere zerbröselt gerade, und die zweite führt zu Konzepten der Beliebigkeit auf den Wellen des sich rasch verändernden Zeitgeists.

In seiner Schrift "Links und rechts" betont der italienische Politikphilosoph Norberto Bobbio, dass sich in jeder Gesellschaft zu jeder Zeit eine polare Werteorientierung herausbildet, die sich in der Politik widerspiegeln muss - allerdings mit sich dabei verändernden Inhalten. "Rechts" steht dabei für vorwiegend egoistische Einstellungsmuster mit gesellschaftlicher Rücksichtslosigkeit. "Links" steht für Einstellungen, die auf Gerechtigkeit und Gemeinwohl ausgerichtet sind. Das Gerechtigkeitsverlangen bedeutet heute, die alte soziale Frage unter veränderten Bedingungen glaubwürdig und konsequent neu beantworten, also Partei ergreifen zu müssen. Gemeinwohlorientierung heißt heute vor allem, sich der ökologischen Herausforderung zu stellen, um die umfassenden sozialen Folgekosten ökologischen Raubbaus zu vermeiden. Dies ist die eigentliche neue soziale Frage.

Beides zusammen fordert eine neue sozialdemokratische Gesellschaftspolitik, die die wachsenden Zukunftsängste überwinden kann. Dass man damit - durch unverkennbares, glaubwürdiges Profil - angestammte Wähler binden und neue gewinnen kann, bewies der hessische Wahlkampf mit Andrea Ypsilantis Programm der "Sozialen Moderne": Die SPD als neu sammelnde statt als schrumpfende Kraft. Der Zulauf jüngerer Wähler und aus selbstständigen Berufen war so groß wie lange nicht mehr. Wie wenig das selbst in der SPD erkannt oder anerkannt wurde, trotz ansonsten allenthalben erlebter Hängepartien, zeigt sich an der unverhohlenen Distanz von Teilen der SPD-Führung zu dem hessischen Projekt, die bereits im Wahlkampf spürbar war.

Es zeigt sich auch an der empfohlenen Ausflucht in die nebulöse, undefinierte "Mitte", die trotz der zweifellos dadurch ausgelösten Schrumpferfahrung immer noch als strategisches Patentrezept gilt. Damit ist kaum mehr als die Rolle des dauernden Juniorpartners der Union erreichbar - mit schwindendem Einfluss. Die Alternative einer "Ampel" mit der FDP wäre für die SPD keinesfalls attraktiver. Jedenfalls nicht in einer Zeit, in der es längst Mehrheitsbewusstsein ist, dass mit "neoliberalen" Politikkonzepten - die eher parvenuhafte "neofeudale" sind - kein handlungsfähiger Staat zu machen ist.

Alle reden vom neuen "Fünfparteiensystem". Bei näherer Betrachtung gibt es jedoch nur zwei relevante große Strömungen in der Gesellschaft, die sich gut und gerne in zwei großen Parteien repräsentiert sehen und alle anderen zu Splittern machen könnten: die einer neuen Rechten, die zwar nicht mehr nationalistisch ist, aber eher diejenigen repräsentiert, die zugunsten ihrer überwiegend ökonomistischen Interessen soziale Spaltungen und gemeinwohlgefährdende Rücksichtslosigkeiten in Kauf nehmen. Dem gegenüber steht eine "neue Linke", die den demokratischen Verfassungsstaat mit neuem Leben füllt, am Prinzip des sozialen Ausgleichs und der dafür zwingend erforderlichen öffentlichen Daseinsvorsorge festhält und die auf nachhaltige ökologische Produktionsweisen setzt. Hier liegt die einzige Chance der SPD zur Wiedererlangung der Rolle als Mehrheitspartei.

Sie kann sie nur durch eine Politik realisieren, die die beiden Aderlasse beendet, die sie seit den 80er-Jahren riskiert hat und sich nunmehr als verhängnisvoll herausstellen. Der eine Aderlass erfolgte durch die Entstehung der Grünen. Die rot-grüne Koalition hätte das dauerhaft heilen können, wenn sie in der SPD-Führung mehr als Projekt denn als einstweiliges, manchen sogar lästiges Zweckbündnis verstanden worden wäre. So blieb sie "unfinished". Der zweite Aderlass geschieht durch Abwanderung zur Linkspartei. Damit hat die SPD zwei offene Flanken, die sie nur schließen kann durch ein couragiertes Konzept des ökologischen Strukturwandels der Wirtschaft und ein neu geschärftes und zugeschnittenes Gerechtigkeitskonzept.

Viele, die der SPD den Rücken gekehrt haben, stehen unter dem Eindruck, dass die Protagonisten der "SPD der Mitte" froh sind, sie losgeworden zu sein - ohne dass sie es vermochte, zum Ausgleich dafür tatsächlich neue Wähler zu gewinnen. So verliert sich die SPD in der ominösen politischen Mitte, die weder Fisch noch Fleisch ist. Noch nie gab es eine Situation, in der die Chance der SPD so groß war und dennoch bisher ausgeschlagen oder halbherzig ergriffen wurde - weil sie von allzu vielen entweder nicht gesehen wird oder allzu viele sie nicht sehen wollen.

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