Theaterstück "Die Möwe": Auf der Höhe seiner Kunst

Der schöne Ernst des Jürgen Gosch: Der Regisseur inszeniert Tschechows Stück "Die Möwe" mit dem Ensemble des Deutschen Theaters in der Berliner Volksbühne.

Vor knapp einem Jahr hatte man sich noch am Ende von Jürgen Goschs umjubeltem "Onkel Wanja" gewünscht, dass diese Inszenierung einfach weitergeht. So lustvoll war es, dem Ensemble bei der Verwandlung von Tschechows Figuren in fein und unerbittlich beobachtete zeitlose Zeitgenossen zuzuschauen - in einer klugen Spiel- und Raumordnung, die auch noch den Vorgang Theater und den eigenen Blick darauf zum Thema machte. Jetzt ist es so weit: "Die Möwe", die Gosch wegen Renovierungsarbeiten am Deutschen Theater in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz herausgebracht hat, knüpft da an, wo "Wanja" aufgehört hat.

Den zuletzt ausweglosen Guckkasten hat der Bühnenbildner Johannes Schütz gleichsam nach vorne gestülpt: Er ragt nun, mit schwarzem Stoff wie mit Asphalt verkleidet, ein gutes Stück in den Zuschauerraum. Seitenwände fehlen, sodass die Spieler den Raum über zwei Treppen frei betreten und verlassen können. Von derselben in die Rückwand gelassenen Bank wie bei "Onkel Wanja" schauen sie sich beim Spielen zu, versunken in stumme Betrachtung und so Spiegel des Publikums gegenüber. Schließlich ist "Die Möwe" beides: ein typischer Tschechow mit dem vertrauten Personal aus lebensuntüchtiger Herrschaft und praktischem Gutshofstaat einschließlich Lehrer, Arzt und Verwalter - andererseits Künstlerstück und Theaterdrama, das vom Erfolg und Scheitern zweier Schauspielerinnen und Schriftsteller handelt. Das Prinzip des Umstülpens steckt auch im Text.

Corinna Harfouchs Irina Nikolajewna Arkadina ist keine mit allen Bühnenwassern gewaschene Diva, sondern eine anscheinend heitere, eher zurückhaltende Frau in Seide und zarten Strickjäckchen. Schon als sie ihrem Sohn in die Parade seiner ersten Bühneninszenierung fährt, fällt ein Schatten auf ihre mädchenhafte Erscheinung. Ihre panische Angst vor Misserfolg - dem eigenen, dem sie durch harte Körperarbeit entgegenwirkt, und dem weniger kontrollierbaren des eigenen Kindes - wird für Kostja Gawrilowitsch Treplew zum Menetekel. Da nützt es gar nichts, dass sie sich dessen glücklicheren Bruder im Geiste, den Starautor Trigorin, zum Lover genommen hat. Jirka Zetts blonder, in gebügelten Hemden immer ein bisschen streberhafter Dichtersohn verliert so gleich dreifach gegen den dunklen Freund der Mutter, der ihn, obwohl kaum älter, nicht nur professionell übertrumpft, sondern ihm neben Mama auch noch die Freundin wegnimmt.

Alexander Khuon spielt die Ironie der zufälligen Überlegenheit einen Tick zu breit aus, steht gerne träumend mit offenem Mund herum oder grinst betont vertrottelt beiseite - und besticht dann wieder logisch, als er sich nur in die junge Schauspielerin Nina verliebt, weil er der, anders als der jede Schwäche scheuenden Arkadina, von seinen Schreibkrisen erzählen kann.

Der Star und zugleich Antistar des Abends aber ist Kathleen Morgeneyers Nina. Aufgefallen schon in Goschs Düsseldorfer "Was ihr wollt"-Inszenierung, erobert die Schauspielerin jetzt das Berliner Publikum: ein bleicher Strich in der Landschaft, große, wie nicht zu ihr gehörende Hände und ein umwerfend charmantes Unsicherheitslächeln, das von einem Ohr zum anderen reicht. Anfangs segelt diese Fleisch gewordene Verlegenheit auf der Grenze zur Karikatur, dreht im entscheidenden Moment vorm Küssen den Kopf zur Seite, fühlt sich beim Bühnendebüt so eifrig in "Menschen, Löwen, Adler und Rebhühner" ein, dass sie hektische Flecken kriegt. Von Akt zu Akt aber erlischt das Komische in dieser tragischen Figur, bis am Schluss nur noch leer geheulte Einsamkeit übrig bleibt.

"Nur was ernst ist, ist schön", sagt Peter Pagels illusionsloser Arzt Dorn. Der schöne Ernst, mit dem Jürgen Gosch auf die glücklosen Menschen in seinen Tschechow-Inszenierungen blickt, erwischt einen umso härter, als man meist gerade noch gelacht hat: über Christian Grashofs alten Sorin, der dort weiter chargiert, wo er im "Wanja" aufgehört hat, und seine Gebrechen strategisch einsetzt. Über das Gutsverwalterpaar Bernd Stempel und Simone von Zglinicki, über Meike Droste, die als tabakschnupfende Mascha wieder herrlich komplexbeladen ist, diesmal aber auch spröd und böse, etwa zu Christoph Frankens ungeliebtem Lehrer Medwedenko, dem kaum Text bleibt, dafür aber ein ergreifender Moment verzweifelten Schokoladefutterns.

Dass die Farbe des Abends schwarz ist, liegt aber nicht nur an Tschechows Vergeblichkeitsszenen und am Bühnenraum, sondern auch daran, dass das Publikum von der schweren Erkrankung des Regisseurs weiß. Mit den Schauspielern hält es den Atem an, wenn Sorin im letzten Akt den Arzt anpflaumt: "Ich will leben. Wenn Sie sterben müssen, kriegen sie auch Angst", wenig später einnickt und von den anderen für einen Moment für tot gehalten wird. Dass es zum Schluss den junge Kostja erwischt, ist kein Trost. Wohl aber, dass Gosch in der "Möwe" ganz auf der Höhe seiner Kunst bleibt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.