Debatte Finanzkrise: Der Herbst der Egoisten

Die Bankenkrise hat die grundsätzlichen Fehler in unserem Finanzsystem offengelegt. Die Lehre lautet: Ungebremster Eigennutz führt nicht auch zu wirtschaftlichem Nutzen.

"Wir sind heute alle Keynesianer" - diesen Satz sagte 1971 ausgerechnet US-Präsident Richard Nixon. Das war damals schon ein Zitat. Zur geflügelten Wendung war diese Aussage ein paar Jahre zuvor durch Milton Friedman geworden - wieder muss man "ausgerechnet" hinzufügen, denn schließlich hatte kaum jemand so viel zur Zerstörung des keynesianischen Nachkriegskonsenses beigetragen wie der Wirtschaftsprofessor aus Chicago.

Es folgten dreißig Jahre neoliberaler Dominanz - aber heute sind abermals wieder alle Keynesianer. Staatsintervention zur Rettung großer Banken, gigantische Infrastrukturmaßnahmen zur Stimulierung der Konjunktur - kaum jemand stellt das heute mehr infrage, sieht man von so bizarren Figuren wie Peer Steinbrück ab. Der Kapitalismus hat überlebt, weil der Staat ihn gerettet hat. Wer hätte vor vier Monaten gedacht, dass George W. Bush als der größte Verstaatlicher seit Wladimir Iljitsch Lenin in die Geschichte eingehen wird? Billionen haben die Regierungen in die Wirtschaft gepumpt. Und man weiß noch nicht einmal, ob das nützt. Daran sieht man, mit welcher Wucht der Karren an die Wand gefahren wurde.

Die US-Notenbank hat ihre Interventionsmöglichkeiten zur Stimulierung der Konjunktur de facto ausgereizt. Sie hat den Zinssatz praktisch auf null gesetzt. Dennoch schrumpft die Wirtschaft weiter. So etwas nennt man normalerweise depression economics. Die üblichen ökonomischen Rechenmodelle spielen verrückt. Die Banken sind gerettet, aber sitzen ängstlich auf ihrem Geld. Einerseits, weil sie die Eigenkapitalbasis ihres Geschäftes erhöhen müssen - was sinnvoll ist, aber selbst zur gegenwärtigen Kreditklemme beiträgt. Andererseits, weil sie nicht wissen, was an Katastrophen noch auf sie zukommt, und sie Liquidität horten. Beispielsweise kann der nächste Crash aus dem Ostgeschäft kommen. Russland kracht. Die Ukraine rettet nur der IWF vor dem Staatsbankrott.

Wir haben ein paar Dinge gelernt seit vergangenem Herbst. Etwa, dass der Eigennutz, entgegen allen neokonservativen Predigten der letzten Jahrzehnte, keineswegs positive wirtschaftliche Resultate zeitigt. Eine Neuigkeit ist es eh keine. "Dass rücksichtsloser Egoismus in moralischer Hinsicht falsch ist, wussten wir schon; jetzt wissen wir, dass er auch in wirtschaftlicher Hinsicht falsch ist", sagte US-Präsident Franklin D. Roosevelt schon vor mehr als siebzig Jahren.

Noch etwas haben wir gelernt: Im Finanzsystem werden unermessliche Reichtümer privat eingesackt, aber die privatkapitalistischen Regeln sind hier längst aufgehoben. Die Verluste der Banken mussten staatlich gedeckt werden, weil ein funktionierendes Finanzsystem ein "öffentliches Gut" sei, sagte CDU-Mann Norbert Röttgen. Damit hat er recht. Aber das wissen natürlich auch die Banker - und passen ihr Risikomanagement daran an. Weil sie wissen, dass es für sie eine implizite Staatsgarantie gibt, können sie Risiken eingehen, die sich kein Fliesenleger und kein Zahnstocherfabrikant je leisten könnte. Im Finanzsektor ist massives Marktversagen deshalb im System angelegt. Dramatisiert wird das Ganze noch angesichts der grotesk-astronomischen Gewinne, die im Boom bei riskantem Gezocke winken. Ein Fabrikant kann vielleicht ein paar Millionen gewinnen, wenn er geschickt ist - ein raffinierter Banker möglicherweise aber ein paar hundert Milliarden. Individuell ist es da durchaus rational, wenn man angesichts solcher Gewinnmöglichkeiten auf Börsen wie in Wettbüros agiert. Die Summe all dieser individuellen Rationalitäten produziert ein System, das hochgradig verrückt ist. Wenn ein funktionierender Finanzmarkt ein "öffentliches Gut" wäre, dann müssten Banken eigentlich notwendigerweise verstaatlicht werden - oder zumindest so weit reguliert, dass von privatwirtschaftlichen Anreizsystemen möglichst wenig übrig bleibt (vergleichbar etwa mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk). Dabei ist ein restriktives Regelwerk wichtiger als die Eigentumsform. Denn wenn Zockermentalität vorherrscht, ist auch für Staatsbanker die Verlockung groß mitzutun - man denke nur an die gloriosen Landesbanken, von Bayern bis Sachsen.

Man wird sehen, wie weit wir in den nächsten Jahren in diese Richtung kommen. Ein bisschen skeptisch darf man durchaus sein, wenngleich man die symbolische Umcodierung aller bisherigen Werte nicht unterschätzen sollte, die im Herbst 2008 einsetzte. Denn es brach ja nicht nur der US-Immobilienmarkt ein, es stürzten nicht nur die Börsenkurse ab und ein paar Bankhäuser in sich zusammen, nein: Eine gesellschaftliche Leitfigur wurde ziemlich ramponiert. Der Broker, der coole Investmentbanker, war ja so etwas wie der paradigmatische Typ eines halben Zeitalters. Diese Gewinnertypen hatten nicht nur Geld, sondern Status, Macht, eine Rolle. Sie galten als die lässigen, zynischen masters of the universe. Wer mit hohen Summen zockte, renommierte in besseren Kreisen als etwas Besonderes. Als wilder, individueller Typ. Es gab da diesen "Icheffekt" des Geldes. Noch den kleinen Leuten redete man ein, sie müssten ihr Geld in Aktien oder Wertpapieren anlegen. Doch wer die vergangenen zehn Jahre monatlich hundert Euro in einen durchschnittlichen Aktienfonds einzahlte, hat heute weniger, als wenn er es in den Sparstrumpf gestopft hätte. Und jetzt? Jetzt kann man nur hoffen. Es gibt einige Gründe anzunehmen, dass der Fall nicht so tief und hart wird wie in den Dreißigerjahren. Einer davon ist, dass wir trotz der Dominanz der neoliberalen Irrlehre in den vergangenen dreißig Jahren immer noch in einer Mittelstandsgesellschaft mit einem gewissen Maß an gesellschaftlicher Gleichheit leben. Das heißt: Es gibt Massenkaufkraft bei den Konsumenten. Die gesamtgesellschaftliche Nachfrage wird nicht ins Bodenlose fallen - und sie wird durch staatliche Stimulusprogramme weiter gestützt werden. In den Dreißigern stürzte der Output in manchen Jahren um rund 15 Prozent ab. Heute gilt noch ein Minus von drei, vier Prozent als Schreckensszenario, an das man besser nicht einmal denkt.

Jedes Konjunkturprogramm ist jetzt besser als keines - und wenn man Löcher gräbt, um sie nachher wieder zuzuschütten. Besser freilich ist es, kluge staatliche Investitionen vorzunehmen. Aber das sagt sich leicht. Eine Brücke, beispielsweise, die man heute zu planen beginnt, wird nicht morgen schon gebaut. Wenn man heute beschließt, alle öffentlichen Gebäude auf Energieeffizienz umzurüsten und die Umrüstung der privaten massiv zu fördern, dann ist das ein gigantisches Investitionsprogramm - aber greifen wird es womöglich erst in zwei, drei Jahren. Ein gutes Investitionsprogramm ist eines, das schnell wirkt und langfristig dem Wachstum nützt: bessere Verkehrswege, bessere Energieinfrastruktur, Breitband für alle, mehr Lehrer, hohe Investitionen in Kindergärten, Schulen, Universitäten.

Die nächste Zeit wird kein Spaß. Aber dass die "Weniger Staat, mehr privat"-Irrlehre tot ist und ihre Anhänger erst mal die Klappe halten - das ist schon ein Fortschritt. ROBERT MISIK

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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