Vor und nach Timbuktu

Die Intervention in Mali ist ein weiteres Beispiel für die Sprunghaftigkeit der französischen Außenpolitik von Olivier Zajec

Wenn die Historiker später einmal auf die französischen Militäroperationen zu Beginn des 21. Jahrhunderts zurückblicken, werden sie vielleicht von „strategischem Schluckauf“ sprechen, so sprunghaft erscheinen die Entscheidungen der letzten zehn Jahre. Um ein komplettes Bild des Einsatzes in Mali zu zeichnen, muss man ihn in diesen Kontext der jüngsten Geschichte einordnen.

Alles begann 2001 in Afghanistan. Unmittelbar nach den Anschlägen auf das World Trade Center beschloss Frankreich den Militäreinsatz zu unterstützen, der zum Sturz des Taliban-Regimes führte. Doch weil Frankreich mit der Region wenig verband und das afghanische Chaos nach der Einnahme Kabuls kaum in den Griff zu bekommen war, hielt es sich mit der Entsendung von Bodentruppen zunächst zurück. Im September 2002 intervenierte Frankreich in der Elfenbeinküste, dem ehemaligen „Schaufenster des frankofonen Afrika“. Paris sandte mehrere tausend Soldaten und verhinderte, dass die für die französischen Interessen wichtige Region im Bürgerkrieg versank.

2003 lehnte Frankreich nach einigem Zögern das Abenteuer der USA im Irak ab. Paris warnte Washington vor dem absehbaren Chaos und Zerwürfnis zwischen den selbst ernannten „Mächten des Guten“ und der von politischen Krisen gebeutelten arabischen Welt.

In Afghanistan verfolgten die Vereinigten Staaten ab 2007 eine in ihrer moralischen Aufgeladenheit realitätsferne Strategie der Aufstandsbekämpfung durch Demokratisierung. Frankreich, das bisher auf seiner Position der „Verpflichtung ohne Zwang“ beharrt hatte, ließ sich von Washington in eine Intervention hineinziehen, die trotz der Professionalität der Truppen zum Scheitern verurteilt war.

Und schließlich Libyen 2011: In einer tragikomischen Mischung aus staatstragender Rhetorik à la Malraux und unbestreitbarer militärischer Effizienz setzte Paris dem Gaddafi-Regime ein Ende – und destabilisierte damit dauerhaft die gesamte nordafrikanische Region. Dem radikalen Islamismus, der dank der Öleinnahmen aus der Golfregion finanziert und bedenkenlos bewaffnet wird[1], waren Tür und Tor geöffnet.

Es wäre müßig, in diesem Wechselbad aus ohnmächtigem Realismus und naivem Idealismus nach logischen Motiven zu suchen. Umso interessanter ist das Beispiel Mali. Hier versuchte die französische Regierung nämlich den Schaden wiedergutzumachen, den ihr Eingreifen in Libyen angerichtet hatte. Die Intervention in Libyen hatte zur Folge gehabt, dass die radikalsten Gruppen im Sahelgebiet an Waffen kamen. So konnten die dschihadistischen Salafisten der Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika (Mujao) und die Organisation Al-Qaida im Islamischen Maghreb (AQMI) die Oberhand über die Tuareg-Rebellion gewinnen und die malischen Regierungskräfte schlagen. Paris hatte lange mit inneren Widersprüchen zu kämpfen, bevor es Monate später in Mali eingriff. So hatten die Gegner reichlich Zeit, sich vorzubereiten.

Noch am 11. Oktober 2012 verkündete der französische Präsident François Hollande: „Es wird keine Bodentruppen geben, französische Soldaten werden nicht in die Kämpfe eingreifen“, man wolle die malischen Streitkräfte einfach nur besser ausrüsten.[2]Mit dieser unvorsichtigen Aussage schränkte Paris ohne Not seinen Handlungsspielraum ein und riskierte, von der unübersichtlichen Situation vor Ort überrumpelt zu werden.

Am 10. Januar fiel 700 Kilometer nordöstlich von Bamako die wichtige Stadt Konna in die Hände der islamistischen Kämpfer von AQMI und Ansar Dine („Verteidiger des Glaubens“). Damit war der Weg in die malische Hauptstadt frei. Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) wartete ab, die Europäische Union hielt sich zurück, und die Vereinigten Staaten waren unschlüssig. So blieben nur die französischen Kampfflugzeuge. Am 11. Januar begann die Operation „Serval“. Drei Monate zuvor hatte Hollande noch verkündet, dass Frankreich nicht anstelle der Afrikaner eingreifen könne. Diese Kehrtwende wirft nicht nur die Frage auf, wie es eigentlich um die Planungskompetenz der französischen Regierung bestellt ist. Sie zeigt auch, wie ungeheuer wichtig es ist, sich Gedanken darüber zu machen, wie die „Stabilisierungsoperationen“ in Zukunft aussehen könnten.

Natürlich war auch die verfahrene Situation in Afghanistan für das Zaudern des Präsidenten verantwortlich gewesen. Doch das Scheitern einer Strategie, bei der bis zu 100 000 Mann über zehn Jahre lang ohne greifbaren Erfolg ständig im Einsatz waren, bedeutet nicht, dass Interventionen grundsätzlich falsch sind. Das belegt der Fall Mali.

Die Lehre aus Afghanistan lautet nicht: „Niemals Bodentruppen“, wie François Hollande voreilig verkündete, sondern dass im Gegenteil alle Konstellationen möglich sind – sofern vier Grundprinzipien beachtet werden. Dazu gehört erstens die unabhängige Einschätzung der Gefahr: Wie „Terrorismus“ entsteht, erklären weder die Powerpoint-Präsentationen des Pentagon noch die Ergüsse von Bernard-Henri Lévy. Aus Geschichts- und Soziologiebüchern kann man allerdings viel über die „Terroristen“ im Sahelgebiet erfahren.

Zweitens geht es um Legitimität: Eine Region zu stabilisieren, heißt nicht, ihr auf unbestimmte Zeit die Präsenz einer Schutzmacht aufzuzwingen und damit zu riskieren, dass die unterstützte Regierung geschwächt wird und bei den Nachbarländern und in der eigenen Bevölkerung an Respekt und Vertrauen verliert. Drittens geht es um die Effizienz der gut ausgerüsteten und zeitlich begrenzten Intervention.

Wenn der taktische und operative Durchbruch gelungen ist, müssen Bedingungen zur Herstellung des lokalen und regionalen Gleichgewichts geschaffen werden. Das einheimische Militär muss die Chance bekommen, das Heft selbst in die Hand zu nehmen. Und viertens muss der politische Handlungsspielraum beachtet werden: Vor Beginn der Operation muss ein Ausstiegsszenario definiert und antizipiert werden. Verbündete sind unverzichtbar, aber sie müssen freiwillig kooperieren und überzeugt sein, dass es auch um ihre Interessen geht.

Waren diese vier Voraussetzungen in Mali erfüllt? Unter dem Aspekt der Legitimität gibt es gute Gründe, warum Frankreich an einem stabilen Afrika gelegen ist: die sprachliche[3], kulturelle und geografische Nähe. All dies gilt nicht für Afghanistan. Auch wäre es falsch, die kritikwürdigen Fehler der französischen Afrikapolitik in einen Topf zu werfen mit den durchaus nützlichen Militärabkommen mit afrikanischen Staaten, deren Souveränität man wirklich respektiert und die auch wirtschaftlich weniger abhängig sind. Man könnte es als Prinzip der „Geosubsidiarität“ bezeichnen: Ein Staat wird bevorzugt in solchen Regionen stabilisierend eingreifen, die für ihn von vitalem Interesse sind. China, Indien und Russland sind von den Entwicklungen in Afghanistan langfristig stärker betroffen als Frankreich. Und auch wenn Peking und Washington immer mehr „Ausbilder“ in die Region schicken, wird es ihnen im Vergleich zu Paris immer noch schwer fallen, die komplizierten Verhältnisse in Westafrika zu durchschauen.

Weitere aufschlussreiche Beispiele für Frankreichs Militärhilfe in Afrika wären etwa die Operation „Epervier“ im Tschad[4]und vor allem das Programm „Stärkung der afrikanischen Kapazitäten zur Friedenssicherung“ (Renforcement des capacités africaines au maintien de la paix, Recamp), das 1997 begonnen wurde. Dieses Programm wurde als so erfolgreich eingestuft, dass es 2004 – in Kooperation mit der Afrikanischen Union (AU) – in eine gesamteuropäische Initiative (Eurocamp) mündete. Daneben pflegt Frankreich auch bilaterale Recamp-Beziehungen zu einigen afrikanischen Staaten, die dem Programm positiv gegenüberstehen.

Recamp kann zwar nicht garantieren, dass die ausgebildeten Militärkräfte ihren Aufgaben wirklich gewachsen sind – das belegt das Beispiel Mali –, aber es lässt wenigstens eine Richtung erkennen, wie in Afrika eine Politik der Unterstützung ohne Einmischung funktionieren könnte – selbst bei massiven Aktionen gegen irreguläre, oft schwer bewaffnete Gruppen.

Diese militärpolitischen Bande erklären zum Teil auch die schnelle Einigung über die Internationale Unterstützungsmission für Mali (Misma) auf dem Ecowas-Sondergipfel am 19. Januar in Abidjan. Die Soldaten der Misma sollen den malischen und französischen Kräften der Operation „Serval“ unter die Arme greifen und später den Abzug der Franzosen ermöglichen.

Acht Länder (muslimische und christliche, frankofone und anglofone) versprachen, sich zu beteiligen: Togo, Benin, Senegal, Niger, Guinea, Burkina Faso, Nigeria, Ghana und Tschad werden insgesamt 5 500 Mann stellen. Der Präsident der Elfenbeinküste und derzeitige Ecowas-Vorsitzende Alassane Ouatarra hält diese Zahl allerdings nicht für ausreichend. Man benötige mindestens 10 000 Mann, um Mali dauerhaft von den Islamisten zu befreien, sagte Ouatarra Ende Januar.

Was die Einschätzung des Gegners betrifft, von der die Zielsetzung und der Rahmen der Intervention abhängen –, ist die Bilanz gemischt. Die Erklärung von François Hollande am 19. Januar, Frankreich werde so lange vor Ort bleiben, „wie es nötig ist, um den Terrorismus zu besiegen“,[5]war ein weiterer Missgriff. Es ist schon verblüffend mitanzusehen, wie Hollande erst verkündete, Frankreich werde in Mali nicht eingreifen, dann drei Monate später verlauten ließ, man werde das Engagement nicht zeitlich begrenzen und schließlich kurz nach dem Einmarsch der französischen Truppen in Timbuktu sagte: „Nun können die Afrikaner uns ablösen.“ Schließlich sei es deren Aufgabe, die „terroristischen Gruppen“ im Norden Malis zu verfolgen. Sind das Anzeichen für einen neuen „strategischen Schluckauf“?

Die Wiederbelebung des simplifizierenden Schlagworts vom „Krieg gegen den Terror“ im Zusammenhang mit Mali ist verstörend. Zumal die Amerikaner, die es so eifrig propagierten, selbst 2009 davon abgerückt sind. Barack Obama ließ damals wissen, dass es „dumm“ sei, „einer Handlungsweise den Krieg zu erklären“, ohne die politischen Ursachen der Brände zu untersuchen, die man angeblich löschen wollte, nachdem man sie ursprünglich selbst entfacht hatte.[6]Man kann „den Terrorismus“ genauso wenig besiegen wie die jährliche Grippewelle und das Aprilwetter. Man kann ihn nur eindämmen.

Terroristische Aktionen – so verdammungswürdig sie von einem absoluten Standpunkt auch sein mögen – schließen nicht prinzipiell aus, dass die „Terroristen“ bei einer späteren Verhandlungslösung eine Rolle spielen. Das mag schockierend klingen. Aber angesichts von historischen Beispielen wie der Algerischen Befreiungsfront (FLN), der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), der israelischen Irgun oder der „guten Taliban“, mit denen der afghanische Präsident Hamid Karsai nach 2014 unweigerlich verhandeln wird, scheint es ratsam, sich vorausschauend über dieses heikle Thema Gedanken zu machen. Im Namen der strategischen Effizienz, wäre man also gut beraten, Gegner und Ziel vorsichtiger zu umschreiben. So hätte Frankreichs Staatspräsident früher und verlässlicher Angaben dazu machen müssen, wie viel Zeit die Truppen voraussichtlich brauchen werden, um die radikalsten irregulären Kämpfer dauerhaft aus Mali zu vertreiben, statt sich immer wieder spontan zu widersprüchlichen Aussagen hinreißen zu lassen.

Trotz aller Kritik muss man festhalten, dass der erste Schritt in Richtung dieses vernünftigen Ziels seit dem Vormarsch der französischen Truppen bis in die nordmalische Stadt Kidal tatsächlich getan ist. Nun wird es darauf ankommen, eine politische Vereinbarung zwischen Bamako, seinen Unterstützern in der Region und den vielen anderen Akteuren herbeizuführen: alte und neue irreguläre Kombattanten, opportunistische Drogenhändler, Deserteure der malischen Armee, vom Wahhabismus am Golf radikalisierte Neodschihadisten und das säkulare Lager.

Der malische Übergangspräsident Dioncounda Traoré hat Verhandlungen mit den Tuareg-Kämpfern der MNLA (Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad) nicht ausgeschlossen. Voraussetzung sei allerdings, dass die MNLA die territoriale Integrität des malischen Staates anerkenne.[7]Gleichzeitig hat die MNLA vorgeschlagen, bei der Bekämpfung der islamistischen Gruppen in Nordmali zu kooperieren.[8]Wie soll man in diesem komplizierten Gefüge sich verschiebender politischer Konstellationen durchblicken, wenn man die Zerrbrille des „Kampfs gegen den weltweiten Terrorismus“ aufhat?

Fußnoten:

1Aufschlussreich ist, dass der Premierminister von Katar, Hamad ibn Dschasim ibn Dschabir al-Thani, am 15. Januar den französischen Einsatz gegen dschihadistische Gruppen in Mali kritisierte. Er sagte, er hätte einen „regionalen Dialog“ vorgezogen. Ähnlich äußerte sich der ägyptische Präsident Mohammed Mursi.

2Im Interview mit Journalisten von France 24, RFI und TV5 Monde am 11. Oktober 2012.

3Amtssprache in der Republik Mali ist Französisch. Außerdem werden Mande-, Songhai- und Dogonsprachen gesprochen, Hassania (ein arabischer Dialekt) und Bamana.

4Mit der Operation „Epervier“, die im Februar 1982 begann, unterstützte Frankreich die Truppen von Hissene Habre, der zuvor mithilfe Frankreichs den tschadischen Präsidenten Gukouni Oueddei gestürzt hatte. Tschads Frauen hat diese Intervention übrigens nicht geholfen.

5François Hollande in einer Rede zur Verabschiedung französischer Truppen in Tulle am 19. Januar 2013.

6Scott Wilson und Al Kamen, „Global war on terror is given new name“, The Washington Post, 25. März 2009. Siehe zum Zusammenhang zwischen dem „War on Terror“ und der Krise in Mali auch: William Wallis, „Mali adds to list of boomerangs from Washington’s war on terror“, Financial Times, 19./20. Januar 2013.

7Interview mit Dioncounda Traoré, RFI, 31. Januar 2013.

8Siehe die Verlautbarung der MLNA „Mise au point concernant la situation dans l’Azawad“, 28. Januar 2013, abrufbar unter: www.mnlamov.net.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Olivier Zajec ist Forscher am Institut de stratégie et des conflits (ISC) in Paris.