Prof. Dr. Reinhard Zöllner
Jeden mit jeder über alles reden zu lassen, wie "Norbert" meint, ist ganz sicher nicht das Ziel des Berliner Ethikunterrichts. Im Zentrum steht, jedenfalls laut Rahmenlehrplan, "die Frage: 'Was ist ein gutes Leben und wie kann man es führen?'" Das ist eine ganz große Frage, mit der -- wie ich finde -- ein einzelnes Fach ohnehin überfordert wird. In Deutsch, Geschichte, Fremdsprachen, Biologie, Geografie, Sozialkunde und Politischer Weltkunde sollte diese Frage eigentlich ständig thematisiert werden. Dass sie in ein eigenes Schulfach abgeschoben wird, ist das Eingeständnis eines didaktischen Versagens auf breiter Front. Würden die anderen Fächer ihre Arbeit anständig erledigen, hätte sich die ganze Diskussion schon längst erledigt.
Natürlich sind Religionen nicht neutral in der Vermittlung von Werten, denn sie haben sich ja für eine ganz bestimmte Sicht auf die Welt entschieden. Aber das ist dann auch klar und eindeutig zu erkennen. Wer evangelischen, katholischen, jüdischen oder islamischen Religionsunterricht besucht, erwartet ja wohl auch nichts anderes. In allen anderen Bundesländern außer Berlin und Bremen funktioniert es übrigens trotzdem wunderbar, dass die Schüler einander dennoch nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen, sondern im Schulalltag einander tolerant und respektvoll begegnen. Das Argument, dass Toleranz und Respekt vor Andersgläubigen nur durch einen eigenen Ethikunterricht gelernt werden können, ist schlichter Unfug. In Hamburg, Frankfurt und Köln funktioniert es doch auch.
Was Böckenförde wirklich meinte, ist: Unsere Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass es genug Menschen gibt, die bereit sind, anderen zu helfen und sich für Schwächere einzusetzen (was man Altruismus nennt). Solche Menschen aber fallen nicht von den Bäumen. Aus zahlreichen soziologischen Studien ist sattsam bekannt, dass eine solche Einstellung mit individueller Religiosität zusammenhängt. Die Spendenbereitschaft z.B. ist bei Menschen, die eine starke religiöse Bindung (gleich, zu welcher Religion) aufweisen, (nicht nur) in Deutschland am höchsten -- und bei solchen Menschen am niedrigsten, die konfessionslos sind.
Natürlich kann man auch Werte vermitteln, ohne einer Religion anzuhängen. Die harten empirischen Tatsachen zeigen allerdings, dass die auf diese Weise vermittelten Werte im Durchschnitt eben nicht diejenigen sind, die wir in unserer Gesellschaft dringend brauchen. Deshalb -- und nur insoweit -- hat die Förderung derjenigen Religionsgemeinschaften, die solche erwünschten Werte vermitteln, durch den Staat ihre völlige Berechtigung. Mit einem Staatskirchentum hat dies nun wirklich nichts zu tun (obwohl man auch hier einmal überlegen sollte, ob nicht Länder, die wie die skandinavischen noch sehr lange am Staatskirchentum festgehalten haben, nicht zuletzt deshalb heute einen ausgebauten Sozialstaat besitzen).
Darauf zu verzichten und darauf zu vertrauen, dass sich irgendwie, irgendwann im Gespräch aller mit allen ein passender Ersatz bildet (vor allem zwischen Jugendlichen, die kaum deutsch können und ihrem deutschen Ethik-Lehrer sprachlich hoffnungslos unterlegen sind -- auch ein Fall von systematisch verzerrter Kommunikation!), ist grenzenlos naiv.
Anders, als "LvM" meint, sind es tatsächlich die Religionen gewesen, die das "Gewissen" erfunden haben. In seiner heutigen Bedeutung stammt der Begriff von Martin Luther. In anderen Sprachen, z.B. Chinesisch, Japanisch oder Koreanisch, hat es dafür vor Beginn der christlichen Missionierung gar keinen Ausdruck gegeben. Das heißt ja nicht, dass Chinesen, Japaner oder Koreaner vor dieser Zeit unethisch gehandelt hätten. Aber es ist immer wieder erstaunlich, wie unbedacht Begriffe, die zweifelsfrei einen religiösen Hintergrund haben wie "Gewissen", "Schuld" und "Identität", von Menschen, die sich religionslos nennen, zur Konstruktion ihrer eigenen Ethik herangezogen werden. Wenn wir auf solche Begriffe also ohnehin nicht verzichten wollen (sonst müssten wir uns gleich für einen konsequenten und ethikfreien Atheismus à la Nietzsche aussprechen), sondern unseren Kindern wahrheitsgemäß (auch ein ethischer Wert!) mitteilen wollen, worum es uns geht, dann geht das ohne Religionsunterricht eigentlich gar nicht.
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