JOSEF WINKLER über ZEITSCHLEIFE
: Mein ungeordneter Rückzug aus Berlin

Nah am Abgrund werden Minuten zu Jahren. Oder, wie Madonna sagt: „Time goes by so slowly / for those who wait“

Gestern Abend habe ich mal wieder meinen Rückzug aus Berlin zurück nach Bayern angetreten. Zwar nicht überraschend und auch ohne allzu viel Porzellan zu zerschlagen (bis auf einen der geblümten Kuchenteller meiner Schwester, und ich werde alles in meiner Kraft Stehende tun, das Vertrauen meiner Schwester zu erneuern), aber ich muss sagen: Ich leide wie ein Hund.

Vor allem, weil ich in dem ’zefix Nachtzug mal wieder kein Auge zugetan habe. Tut das Not, dass in einem Nachtzug von Berlin aus volle Pulle ungedimmt die Lichter anbleiben, bis zwei Stunden später in Halle ein paar Verlorene zugestiegen sind? Und dann ist da natürlich einer dabei, der anfängt zu schnarchen, sobald’s endlich dunkel wird, aber das hört man eh nur in den kurzen Phasen, in denen der Zug einen halbwegs intakten Gleisabschnitt befährt und also nicht rattert und knarzt und ruckt, als wolle er gleich aus den Schienen springen und uns alle mitnehmen in eine bessere Welt.

Kalt schwitzend hing ich da, wie der reinste Hobo im Fahrgestell seines Güterwaggons, Stunden wurden zu Tagen. Als ich mich am Morgen im Klospiegel sah, fiel mir das Gerät wieder ein, von dem ich im Prospekt eines Elektromarktes gelesen hatte: der Gesichtskonturenschneider. Keine Ahnung, wie man sich den Einsatz des Gesichtskonturenschneiders vorstellen darf – irgendwie grausig, aber auch praktisch: für 5 Euro und mit etwas handwerklichem Geschick aussehen wie, was weiß ich, Sky Dumont. Hm. Obwohl, gell?

Ich habe wieder Lebenspraktisches gelernt auf dem Hauptstadtparkett. Zum Beispiel: Wie man Frauen anquatscht in Argentinien, in der Disco oder so. Zwar weiß ich nicht, ob ich das je werde nutzen können, aber es geht so (sagt jedenfalls der Linzer Mitbewohner eines Freundes, ein FC-Bayern-Fan, was mein Wahlberliner Fastschwager Holger, auch Bayernfan, erfreulich abgefahren findet: in Berlin einen Bayernfan aus Linz kennen zu lernen, der beim Finale in Barcelona war; ich finde das nicht so abgefahren; ich vermute, man kann auch in Helsinki Tasmanier treffen, die Bayernfans sind, weil das eine globale Pandemie ist; apropos: Heute Mittag hab ich einen toten Hahn gefunden. Erst war ich unschlüssig, ob ich ihn den Gesundheitsbehörden melden sollte, dann stellte ich fest, dass er gegrillt war. Und aß ihn).

Jedenfalls: Man muss, sagt der Linzer, einen Typen auschecken, der erkennbar mit der Dame in Beziehung steht, aber ebenso erkennbar nicht mit ihr liiert ist. Mit dem muss man eine Plauderei über Fußball anreißen („Das war ein Spiel gestern, was?“), weil sich alle argentinischen Männer für Fußball interessieren, und dann warten, bis er einen der Dame vorstellt. Das Vorgestelltwerden, sagt der Linzer, ist Imperativ, um mit einer argentinischen Dame ins Gespräch zu treten.

Ich schätze, man kann da auch richtig Pech haben. Es soll ja Fußballfans geben, die zum Beispiel nicht darauf kämen, einen einer Dame vorzustellen, sondern lieber die Verletzungsmisere bei Barca diskutieren. Mir selbst ginge für so eine Unterhaltung schnell der Stoff aus („Das letzte Woche war auch ein Spiel, was?“). Minuten werden zu Jahren.

Aber ich bin da wohl auf meine Art auch nicht besser. Ich habe jetzt etwas getan, was man eigentlich nicht tun sollte, wenn man von Partygebern mit dem Plattenauflegen betraut ist (andererseits, ich sag immer: Manche Leute legen gegen Geld auf, ich gegen Widerstände, harhar. Im Ernst: Ich leide da manchmal wie ein Hund. Direkt wie ein Hund. Manchmal wie mehrere Hunde auf einmal).

Zu später Stunde, als eh schon alles in den Sofas hing, legte ich das von mir erst letzthin entdeckte Stück „Close To The Edge“ von, ja, Yes auf. Das dauert achtzehneinhalb Minuten und könnte von weniger aufgeschlossenen Hörern als popmusikalisches Äquivalent eines mehrstündigen Diskurses über die Verletzungsmisere bei Barca empfunden werden. Ich aber (und Verena und Arno auch) finde, das kann man schon mal machen. Wie gesagt: Ich werde alles in meiner Kraft Stehende tun, das Vertrauen meiner Schwester und meines Fastschwagers zu erneuern.

Fragen zu, ja, Yes? kolumne@taz.de Morgen: Martin Reichert über LANDMÄNNER