: Feier der Wintersonnenwende
MYTHOLOGIE Was Weihnachten heute so populär macht, sind die Lichter und der Gabentisch. Es ist Zeit für die Wintersonnenwende, die Nachtreise der Toten, die Wiederkehr des Lebens
Die Brüder Grimm haben sich von dem Freiherren von Haxthausen im „Paderbörnischen“, unweit des Ortes „Bremerberg“, alte überlieferte Geschichten erzählen lassen. Zwei von ihnen fassten sie unter dem Titel „Die Bremer Stadtmusikanten“ zusammen und fügten sie ihrer Märchensammlung in der zweiten Auflage 1819 bei. Damals waren die „Stadtmusici“ Bremens im Norden Deutschlands bekannt und das Märchen wurde so möglicherweise für besser verkäuflich gehalten als mit einem Titel, der „Bremerberg“ als Ziel nannte.
Das hinter der Geschichte liegende Motiv, eine nächtliche Wanderung von dem Tod geweihten Seelen und ihre wundersame Errettung im erzählerischen Kontext eines hellen Lichtes und eines paradiesisch gedeckten Tisches, ist weltweit im mündlich überlieferten Volksgut anzutreffen.
Der Buchautor Gerrit Reichert hat Dutzende solcher Märchen zusammengetragen. Schon aus dem 12. Jahrhundert ist die Geschichte überliefert, damals sollten Esel, Reh, Ziege, Widder, Hirsch, Hahn und Gans für eine Hochzeitsfeier geschlachtet werden. Auf ihrer nächtlichen Reise stoßen sie auf ein unbewohntes Haus, in dem sie sich satt essen können. In Russland kämpfen Hammel, Ziegenbock, Schwein, Hahn und Gänserich im Waldhaus gegen Räuber, in Syrien sind es Ziege, Widder, Hahn und Hase in einem Steinhaus, die sich gegen vier Wölfe wehren müssen. Selbst auf Sumatra wird eine Geschichte nächtlich wandernder Tiere erzählt, die Zuflucht in einem Haus finden und dort Geister erfolgreich vertreiben, bevor sie errettet werden. Die „Bremer Stadtmusikanten“ sind ein heute weltweit bekannter Stoff, selbst die chinesische Ausgabe der Grimms Märchen erschien mit den Tieren auf dem Titel. Woher diese Popularität? Je weiter man in der Geschichte solcher Erzählungen zurück geht, desto deutlicher wird in ihnen das Motiv der nächtlichen Wanderung der Seelen, die die toten Körper verlassen haben. Auf die ewig drängende Frage, was aus ihnen wird, sind in den Mythen der Völker immer wieder Antworten gesucht und gefunden worden, die mit den Metaphern von Licht und paradiesisch gedeckten Tischen – eben mit dem Gegenteil des irdischen Hungerleidens – assoziiert werden. Ewiges Leben und Fruchtbarkeit sind der rote Faden in den Mythen aller Völker.
Die Riten, die das Weihnachtsfest weltweit erfolgreich gemacht haben, enthalten erstaunlich verwandte Motive. Weihnachten ist ein Lichterfest, bei dem sich die Menschen gegenseitig an feierlich gedeckten Tischen üppig beschenken. Mit dem Kern der judäischen Jesus-Geschichte hat das nichts zu tun. Schon in der griechischen Version wurde aus der jungen, unverheirateten und dennoch schwangeren Frau die „Jungfrau“, deren Figur mit dem damals in der Götterwelt verbreiteten Mythos der „Jungfrauengeburt“ aufgeladen werden konnte. Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Marien-Gestalt in der christlichen Kultur zur Göttin ausfabuliert und so verehrt.
Wichtiger fast noch als Maria für den heutigen Weihnachtskult ist die heilige Lucia, die „Lichtvolle“. Lucia wurde 286 nach Christi Geburt in Sizilien geboren. In den ersten Jahrhunderten nach Jesu Tod dachte keiner seiner Anhänger daran, einen Geburtstag zu feiern. Man erwartete den Weltuntergang. Lucias Festtag wurde auf den 13. Dezember gelegt, das war – bis zur Gregorianischen Kalenderreform – der Tag der Wintersonnenwende, der dunkelste Tag des Jahres, den die Heilige Lucia mit ihrem Lichte erhellen sollte – in Erwartung des Frühlings, mit dem die Sonne die Fruchtbarkeit zurückbringt.
Im aktuellen Weihnachts-Mythos wird die Licht-Metaphorik ebenso integriert wie der „Nikolaus“, der mit dem Rentier-Wagen die Geschenke durch den Schnee fährt. Maria musste ihr Kind zur Wintersonnenwende zur Welt gebracht haben wie die ägyptische Göttin Isis ihren Har-Sieses, weil die Menschen mit dem Fest in dieser Jahreszeit, in die der dunkelste Tag des Jahres fällt, die Erwartung auf die wiederkehrende Sonne feierten – die Wiedergeburt des Lebens. Und so ist es kein Zufall, dass der Haushahn in der Grimmschen Fassung des Märchens von den Stadtmusikanten das Ereignis als Weihnachtsgeschichte versteht: Es ist „unser lieben Frauen Tag, wo sie dem Christkindlein das Hemdchen gewaschen hat“. Weil da Gäste zum großen Essen erwartet werden, sollte der Hahn in die Suppe. Er rettet seine Seele durch die nächtliche Wanderung.
„Mit dem paradiesischen Überleben von Esel, Hund, Katze und Hahn endet das uralte Thema der ekstatischen Reise in die Welt der Toten“, schreibt der Buchautor Gerrit Reichert. Mit dem nächtlichen Mahl, der Mitternacht und dem martialischen Kampf gegen die bösen Räuber haben sie ihr Überleben gesichert und die Totenseele aus dem Schattenreich ins lichtvolle Paradies geführt. Das Kikeriki des Hahns kündigt das Morgengrauen an – der „stoffmotivische Kern“ der Geschichte von den Stadtmusikanten ist – Weihnachten. kawe
■ Buchautor Gerrit Reichert wird heute, 11 Uhr im Haus der Wissenschaften (Sandstraße) über den „Zauberspruch der Weihnachtszeit – Das Geheimnis der Bremer Stadtmusikanten“ einen Vortrag halten. Der Eintritt ist frei.