die wahrheit: Versunkene Runen
Partnerland der Leipziger Buchmesse ist 2009 das geheimnisvolle Drehstromland.
Der Coup ist gelungen! Bis zum Schluss hatten es die Leipziger Verantwortlichen geschafft, das Partnerland der diesjährigen Frühjahrsmesse geheim zu halten. Zuletzt hatten mit Westdeutschland und Schengenraum zwei Favoriten bei den Buchmachern so weit vorn gelegen, dass niemand mehr mit einem lachenden Dritten rechnen mochte. Doch nun drängelt sich alles an den Ständen des antiken Drehstromlands, das bis vorgestern niemand auf der Rechnung hatte. Und das aus einem durchaus nachvollziehbaren Grund: denn bis dahin kannte außer einem Hildesheimer Altertumsforscher auch niemand dieses sagenumwobene Reich im Nahen Osten, das allerdings auch keine historischen Zeugnisse seiner Existenz hinterlassen zu haben schien.
Aber genau das hat sich nun Schlag dreizehn mit der Eröffnung der Leipziger Messe geändert und dürfte nun den gesamten Buchmarkt revolutionieren. Unablässig drängen sich die Besucher in dichten Reihen um den einzigen Stand des Partnerlandes, um einen Blick auf die Sensation zu erhaschen: ein Faksimile des Grabungsfunds, den Dr. Dietmar Paschke vom Römer-Pelzlaus-Museum in Köln Anfang des Jahres gemacht hat.
Auf sumpfigen Untergrund sind eine schier unüberschaubare Menge unterschiedlichsten Zeichen und Abbildungen zu erkennen - vom gerupften Huhn bis zur linksdrehenden Lakritzrolle. Es ist nicht nur unmöglich, sich alle zu merken, man schafft es nicht einmal, sich irgendein Symbol vorzustellen, das sich nicht irgendwo auf diesem Sumpfpapyrus wiederfände.
Mit aufgerissenen Mäulern umstehen die bibliophilen Messegäste das Dokument und bedrängen Dr. Paschke mit ihren Fragen. Und weil der sie einzeln gar nicht mehr alle beantworten kann, hält er jede volle Stunde einen rund sechzigminütigen Kurzvortrag, um das Allerwissenswerteste in geraffter Form zu erläutern.
Zunächst erklärt er anschaulich die Herkunft des Wortes "Drehstromland", das gleichsam als frühe Phase des Zweistromlandes durch dessen verschobenen Tidenzyklen in halbtägliche Rotation versetzt worden ist. "Das hat vermutlich bei den Bewohnern, die weder schwimmen noch Boote bauen konnten, "so Dietmar Paschke, "zu einer existenziellen Richtungslosigkeit geführt, zu der sich ein unbändiges Mitteilungsbedürfnis an die Außenwelt gesellte". Stolz zeigt Paschke auf seinen Fund: "Wir wissen nicht einmal, in welche Richtung die Drehstromländler geschrieben haben, ob von unten nach oben, von schräg nach links oder sogar von innen nach außen. Sie können es drehen, wie Sie wollen. Alles ist möglich, denn dieses Faksimile zeigt nur die Oberschicht, unter der er es ungefähr zehn Meter symbolisch in die Tiefe geht. Denn kein Krümelchen Papyrus ist ohne irgendein Zeichen geblieben."
An der Stelle geht ein Raunen durch die Runeninteressierten, und die Vornestehenden beginnen an dem Dokument zu schnuppern. Jaschke drückt sie sanft zurück und fährt fort, um zur eigentlichen Sensation zu kommen: "Und nun stellen Sie sich einmal vor, wie alle unsere bisher erforschten Schriften funktionieren! Die haben alle endlich viele Zeichen, beginnend mit dem Binärsystem aus null und eins über die 26 Buchstaben unseres Alphabets bis hin zu Hieroglyphen, Runen und Keilschriften. Ab einer gewissen Textmenge gibt es in jeder Schriftform Wiederholungen. Doch nun schauen Sie sich das an!" Paschkes Augen leuchten. "Rund 13 Millionen Zeichen habe ich schon untersucht, ungefähr so viele, wie es Lottoreihen gibt, und bisher habe ich noch keine zwei Symbole gefunden, die sich geglichen hätten! Wir haben es, liebe Messegäste und Bücherfreunde, mit einer völlig neuen Schrift und Literatur zu tun!"
Aus dem Pulk kommt zaghaft eine erste Fragen: "Haben Sie denn schon irgendetwas entziffert und verstanden?", will eine Fragestellerin wissen, und Paschke scheint auf diese Frage nur gelauert zu haben, denn sofort legt er nach: "Nein! Natürlich nicht! Aber genau das ist es ja, was die Literatur wieder spannend machen könnte! Finden Sie es denn nicht auch albern und bräsig, immer wieder bunte und scheinbar neue Bücher aufzuschlagen, in deren Innerem dann doch wieder die ewig gleichen 26 Buchstaben hocken und betrachtet werden wollen? Warum gibt es denn nichts Neues mehr in der Literatur - das literarische Ereignis? Das liegt doch nicht am fehlenden Willen, sondern an den fehlenden Buchstaben! Voilà - hier sind sie …"
Und kaum hat Dietmar Paschke seinen engagierten Vortrag beendet, schon bildet sich die lange Schlange derer, die sich in die Subskriptionslisten für die "Annäherung an eine vermutliche Einführung ins Drehstromländische" eintragen wollen. Zumindest am Stand des Messepartnerlandes Drehstromland ist von Buchmarktkrise also rein gar nichts zu spüren.
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