Kolumne Protestkultur: Erinnerungen hinter Flaggen

Es ist ein leicht, sich über die Pantominen vom 1. Mai lustig zu machen. Ihre Lächerlichkeit ändert aber nichts daran, dass die Forderungen von einst aktuell sind.

Meine erste Demo zur Feier des 1. Mai war meine schönste. Vielleicht weil ich hingetragen wurde. Vielleicht weil ich nicht begriff, was dort geschah.

Mein Vater hatte mir die ganze Sache als eine Art Ausflug verkauft, als Picknick. Ich saß auf seinen Schultern, um uns herum Menschen, viele Menschen, und Flaggen, viele rote Flaggen. Es wurde viel geschrien, vor allem von einem Mann mit verzerrter Stimme, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte. Es existiert ein Foto von uns beiden, seine Hände halten meine, und neben den roten Fahnen sind im Hintergrund überlebensgroße Gesichter bärtiger Männer zu sehen, an die ich mich allerdings überhaupt nicht entsinne. Alles in allem eine schöne Erinnerung, hätte mein Vater mir nicht Jahre später, in einem anderen Land, in einem anderen politischen System, auf den 1. Mai angesprochen, mit unvergesslichem Zorn erzählt, wie sehr er diese Demos gehasst habe, wie widerlich sie gewesen seien. Als Kind hatte ich ihm das nicht angemerkt.

Nicht nur in der einst kommunistischen Welt: Die 1.-Mai-Demonstrationen sind erstarrte Rituale, eine Mischung aus Tea for Two und Neujahrsfeuerwerk. Sie haben die politische Dringlichkeit von Blumen zum Muttertag. Im gegenwärtigen Europa ist die Teilnahme an ihnen zwar freiwillig, aber die Gesten und Phrasen sind genauso leer und abgedroschen wie früher im Osten. Wenn politischer Protest im öffentlichen Bewusstsein so weit verankert ist, dass der Staat ihn per Gesetz einmal im Jahr ehrt, sind die Emotionen seines Ursprungs längst vergessen. Das Drama der einstigen Kämpfe ist verborgen, an dessen Stelle treten ungefährliche, verwackelte Abziehbilder. Es wäre ein Leichtes, sich über die geist- und wirkungslosen Pantomimen politischen Aktivismus lustig zu machen, wären die Anfänge vor gut hundert Jahren nicht so würdevoll und berührend, wären die Forderungen von damals heute nicht so aktuell. Die einzige Verteidigung gegen die Verkrustung unserer Erinnerung ist die Entstaubung der Ideen und Emotionen der Vergangenheit.

Im Brockhaus aus dem Jahre 2008 steht: "Gesetzlicher Feiertag in zahlreichen Ländern der Erde, von der Zweiten Internationale auf ihrem Gründungskongress (1889) als ,Kampftag der Arbeit' begründet und 1890 mit Massendemonstrationen erstmals begangen." Das ist verkürzt und nicht ganz richtig. Der 1. Mai war eigentlich der 4. Mai und die betreffende Demo wurde erstmals 1886 begangen, unter anderem in Chicago, damals die Speerspitze der Arbeiterbewegung, angeführt von anarchistischen Sozialisten. Im ganzen Land wurde gestreikt: 1.411 Streiks, 9.891 bestreikte Betriebe, fast eine halbe Million Streikende.

Die Gewerkschaft "Knights of Labor" verzeichnete 1886 schon 730.000 Mitglieder. Sie lehnte das Lohnsystem ab - "wir sind die willenlosen Opfer eines irrsinnigen Systems" - und strebte danach, Produktionsgenossenschaften zu gründen. Auch kämpften die Protestierenden für einen Achtstundenarbeitstag und gegen die massive Kürzung von Löhnen, die von den Unternehmern seit einiger Zeit vorangetrieben wurde, angeblich wegen der wirtschaftlichen Krise. Die Streikwelle hatte Anfang Mai fast das ganze Land erfasst; die Unternehmer formierten private Schlägertrupps und setzten Söldner der Detektei Pinkerton ein. Am 4. Mai 1886 versammelten sich - wie in den Tagen zuvor - die Streikenden auf dem Haymarket Square zu einer weiteren Kundgebung, die friedlich blieb, bis die Polizei sie zu zerschlagen versuchte. Irgendjemand (bis zum heutigen Tag ist der Täter unbekannt) zündete eine Bombe - einige Polizist starben, viele Teilnehmer wurden verletzt. Das war eine willkommene Provokation. Im ganzen Land wurden die Streiks blutigst unterdrückt, in Chicago wurden die Arbeiterführer willkürlich verhaftet und zu Tode verurteilt, obwohl Zeugen belegten, dass einige von ihnen nicht einmal auf der Kundgebung gewesen waren. Am 11. November 1887 wurden die vier verurteilten Anarchisten gehängt, darunter August Spies und Albert Parsons.

Spies war in Deutschland geboren worden und 1872 in die USA ausgewandert. Er schrieb hervorragende Artikel auf Deutsch und auf Englisch und war berühmt für sein Mitgefühl (ein Mitkämpfer habe gedroht, ihn am Tag der Revolution ins Gefängnis zu werfen, damit er mit seiner Gefühlsduseligkeit das notwendige Durchgreifen nicht behindere). Bevor er gehängt wurde, sagte er Worte, die gelegentlich in Erinnerung gerufen werden sollten: "Es wird eine Zeit kommen, wenn unser Schweigen mächtiger sein wird als die Stimmen, die ihr heute erwürgt."

Albert Parsons Geschichte ist noch dramatischer. Er wurde als Waisenkind von einer Sklavin namens Esther aufgezogen, kämpfte im Bürgerkrieg aber aufseiten des Südens. In schamvollen Diskussionen mit seiner Ziehmutter nach dem Krieg wandelte er sich allmählich zu einem kritischen Geist. Er heiratete Lucy Gathings, teils Afroamerikanerin, teils Indianerin, auch Waisenkind, auch Anarchistin. Sie gehört zu den vergessenen Heldinnen des politischen Widerstands; man kann mit Fug und Recht behaupten, dass sie einen wesentlichen Anteil an der Kultur der Erinnerung an den 1. Mai hat.

Die Frau von Spies, Nina Van Zandt, stammte aus einer anderen sozialen Schicht. Als Tochter aus reichem Chicagoer Hause verfolgte sie mit ihrer Mutter den Prozess gegen die Haymarket-Anarchisten aus Amüsement. Doch die Haltung und die Aussagen des Angeklagten Spies faszinierten sie; sie begann ihn im Gefängnis aufzusuchen. Als ihr das verboten wurde, heiratete sie ihn kurz vor seiner Erhängung. Sie blieb ein Leben lang Aktivistin und starb 1936 bettelarm, von ihrer Familie enterbt.

Heute, da Discounter wie Netto, Lidl, Penny und Norma regelmäßig mehr als zehn Stunden Arbeit pro Tag verlangen und ihre Angestellten nach Strich und Faden ausspionieren, lohnt es sich, am 1. oder am 4. Mai oder auch an jedem anderen Tag des Jahres an das Motto der Streikenden auf dem Haymarket in Chicago zu erinnern: Ein Unrecht gegen den Einzelnen ist ein Unrecht gegen alle.

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