: Aufseher im Tiefschlaf
Vertrauen ist gut, Kontrolle nicht besser. Nach diesem Motto ließ der Bahn-Aufsichtsrat dem Vorstand des Schienenkonzerns jahrelang freie Hand bei Stuttgart 21. Nach der jüngsten Kostenexplosion sind die Kontrolleure aus dem Tiefschlaf aufgeschreckt – weil nach der kommenden Bundestagswahl Schadenersatzansprüche drohen
von Peter Freytag
Die milliardenschwere Kostenbombe bei Stuttgart 21, die am 12. Dezember 2012 während einer Sitzung des Bahn-Aufsichtsrats in Berlin detonierte, war heftig. Aber es war nicht die erste Kostenexplosion, die den geplanten Tiefbahnhof im Talkessel der schwäbischen Landeshauptstadt erschütterte. Seit den ersten Kalkulationen Mitte der neunziger Jahre hat sich das Prestigeprojekt S 21 um 240 Prozent auf aktuell 6,8 Milliarden Euro verteuert – noch bevor die Bahn mit dem Bau richtig begonnen hat.
Hat das Bahnmanagement das Milliardenprojekt im Griff? Seit der jüngsten Kostenexplosion treibt diese Frage den Aufsichtsrat des bundeseigenen Schienen- und Logistikkonzerns um. Zuvor verharrte das 20-köpfige Aufsehergremium jahrelang im kollektiven Tiefschlaf. Gegen Recht und Aktiengesetz? „Der Aufsichtsrat hat die Geschäftsführung zu überwachen“, heißt es dort unmissverständlich in Paragraf 111. Die Aufsichtspflicht sei „gewissenhaft und sorgfältig“ anzuwenden, fordert ergänzend Paragraf 116 Aktiengesetz.
Fakt ist, dass an der Spitze des Gremiums ein zuvor eher unbekannter Chemiemanager steht, der schon bei seiner Ernennung als zweite Wahl galt. Nachdem sich Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) mehrere Absagen namhafter Wirtschaftskapitäne eingehandelt hatte, installierte er im April 2010 den früheren Degussa-Chef Utz-Hellmuth Felcht (DB-Bezüge 2011: 117.200 Euro). Der 66-jährige Sammler von Miniatureisenbahnen verfügte bei Amtsantritt zwar über reichlich akademische Titel, aber über keinerlei Erfahrung im Schienen- und Transportgewerbe. Allerdings: Falls die auf Eis liegenden Börsenpläne des Bahnkonzerns wieder aufgetaut werden, ist Prof. Dr. Dr. Felcht der richtige Mann.
Als Partner von One Equity Partner Europe (OEP), einem Tochterunternehmen der amerikanischen Großbank JP Morgan, kennt er sich aus mit Kapitalinvestments in Unternehmen. JP Morgan war bei früheren Großdeals der Deutschen Bahn aktiv, so 2002 als Beraterin bei der Übernahme der Stinnes AG und von deren Logistikunternehmen Schenker. Felcht ist auch Mitglied im Board of Directors des irischen Baustoffkonzerns CRH plc Dublin. CRH gehört zu den fünf weltweit größten Baustoffkonzernen. Er ist vor allem im weltweiten Betongeschäft führend und ist auch im Tiefbau aktiv, was Stuttgart 21 für ihn interessant macht.
Die Staatssekretäre werden nervös
Ein Indiz für einen Aufsichtsrat „außer Führungskontrolle“ liefert der vom Spiegel öffentlich gemachte Fragenkatalog, den die drei von den Bundesministerien für Verkehr, Finanzen und Wirtschaft in den Aufsichtsrat entsandten Staatssekretäre kurz vor Jahreswechsel an Bahnchef Rüdiger Grube (DB-Bezüge 2011: 2.462.000 Euro und 961.000 Euro Pensionsrückstellung) schickten. Die brisante Weihnachtspost dürfte ein Novum in der deutschen Wirtschaftsgeschichte gewesen sein. Zwar billigt das Aktiengesetz ausdrücklich, dass auch einfache Aufsichtsräte Auskunft vom Unternehmensvorstand begehren dürfen. Doch derart kritische Fragen zu stellen ist gewöhnlich Job des Aufsichtsratsvorsitzenden. „Die jüngsten Entwicklungen machen die Staatssekretäre richtig nervös“, berichtet Anton Hofreiter, der für die Grünen dem Verkehrsausschuss des Bundestags vorsitzt. Die brisante Weihnachtspost dürfte ein Novum in der deutschen Wirtschaftsgeschichte gewesen sein. Zwar billigt das Aktiengesetz ausdrücklich, dass auch einfache Aufsichtsräte Auskunft vom Unternehmensvorstand begehren dürfen. Doch derart kritische Fragen zu stellen ist gewöhnlich Job des Aufsichtsratsvorsitzenden.
Felcht dagegen schrieb am 12. Dezember 2012 in anderer Hinsicht deutsche Wirtschaftsgeschichte. Just an dem Tag, als DB-Vorstand Kefer in gewohnter Powerpoint-Manier das „Go“ des Aufsichtsrats zu den Mehrkosten bei S 21 einholen sollte, verkündete der Oberaufseher die vorzeitige Vertragsverlängerung des DB-Vorstandschefs Grube. Felcht, der sich mit dem 62-jährigen Grube duzt, belohnte den Hauptverantwortlichen für die drohende milliardenschwere „negative Eigenkapitalverzinsung“, wie ein Unternehmensverlust in diesem Falle heißt, mit fünf weiteren Jahren auf dem Chefposten.
Mittlerweile ist durch ein Dossier aus dem Bundesverkehrsministerium öffentlich geworden, dass Grube und Kefer dem Aufsichtsrat die jüngste S21-Kostenexplosion monatelang verschwiegen. Demnach kannte Infrastrukturvorstand Kefer seit Anfang Juli die Ergebnisse eines Gutachtens zu möglichen weiteren Kostensteigerungen, Anfang August wurden die Folgen im gesamten Bahnvorstand besprochen, heißt es im Dossier.
Wer hätte auf Eignerseite Einspruch einlegen sollen? Vom Aufsichtsratsmitglied Jürgen Großmann (DB-Bezüge 2011: 38.800 Euro) war dies wegen enger Geschäftsbeziehungen zur Bahn kaum zu erwarten.
Noch als Vorstandsvorsitzender des Essener Energiekonzerns RWE vereinbarte Großmann Mitte 2011 einen Milliardendeal mit Bahnboss Grube: Für 1,3 Milliarden Euro liefert RWE ab 2014 Ökostrom für DB-Fernzüge. Großmann, vor Fukushima mit Grube einer der vehementesten Atomenergie-Fürsprecher, ist zudem Alleineigentümer der Georgsmarienhütte. Diese kontrolliert ein Firmengeflecht mit 52 Unternehmen, die auch Lieferanten der Bahn sind, wie eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag bekannt machte.
Auch der frühere Arbeitgeber von DB-Aufsichtsrat Christoph Dänzer-Vanotti (DB-Bezüge 2011: 39.100 Euro), der Düsseldorfer Energiekonzern Eon, ist über Stromlieferverträge eng mit der Bahn verbunden. In die Zeit, in der Dänzer-Vanotti Eon-Arbeitsdirektor war, fiel der Baubeschluss für das umstrittene Steinkohlekraftwerk Datteln 4, als dessen langfristiger Stromabnehmer die Bahn vorgesehen war. Durch juristische Streitigkeiten ist der Meiler aus der fossilen, klimaschädlichen Brennstoffära, ursprünglich vorgesehene Inbetriebnahme Ende 2011, bis heute nicht fertiggestellt.
Starke Interessen, wenig Zeit für Kontrolle
Interessenkonflikte sind auch bei Heinrich Weiss (DB-Bezüge 2011: 38.300 Euro) nicht auszuschließen. Der Bahn-Aufsichtsrat ist nicht nur Geschäftsführer und Eigentümer des Siegerländer Maschinenbaukonzerns SMS Group. Er ist auch Mitglied im Verwaltungsrat von Bombardier, dem weltweit größten Bahntechnikhersteller. Der Verwaltungsrat dieser kanadischen Aktiengesellschaft hat – anders als der Aufsichtsrat in einer deutschen AG – operative Aufgaben. Zudem sitzt Weiss im Aufsichtsrat der Heidenheimer Voith GmbH. Die Bahn zeichnete den Technologiekonzern, dessen Rangierlok Gravita bei der DB Schenker Rail im Einsatz ist, jüngst zum „Lieferanten des Jahres 2012“ in der Kategorie Fahrzeuge aus.
Neben persönlichen Verbindungen könnte auch fehlende Zeit die Aufsichtsräte davon abgehalten haben, Grube, Kefer und Stuttgart 21 ordnungsgemäß zu kontrollieren.
„Sie müssen für ein ordentliches Aufsichtsratsmandat etwa 15 bis 20 Arbeitstage im Jahr einkalkulieren“, beziffert der hauptberufliche Aufsichtsrat Klaus Bukenberger gegenüber dapd den notwendigen Arbeitseinsatz. Der Vorsitz eines Aufsichtsrats erfordere laut Bukenberger sogar bis zu 60 Tage im Jahr. „Der Aufsichtsrat beschäftigte sich in mehreren seiner Sitzungen mit der Situation des Großprojekts Stuttgart 21“, schreibt Lutz-Hellmuth Felcht zwar im aktuellen DB-Geschäftsbericht 2011. Doch im Berichtsjahr trat das Gremium lediglich zu vier ordentlichen Sitzungen zusammen – mit jeweils prall gefüllten Tagesordnungen. Schwerpunkt einer außerordentlichen Sitzung im April, als in Stuttgart das Grundwassermanagement auf Eis lag und die Folgen der Schlichtung zusätzliche Kosten und Zeitverzug wahrscheinlich machten, war nicht der Tiefbahnhof, sondern die Beschaffung neuer ICx-Züge.
Nach der Kostenexplosion im vergangenen Dezember hat das Gremium eine Entscheidung über die weitere Finanzierung von Stuttgart 21 zunächst vertagt. „Den Leuten wurde erst jetzt klar, was sie an der Backe haben“, meint Grünen-Verkehrsexperte Hofreiter. Nun soll bis März genauer geprüft werden. Unter anderem Haftungsfragen. Dabei bezahlt die Deutsche Bahn für die Mitglieder des Aufsichtsrats eine sogenannte Manager-Haftpflichtversicherung (D-&-O-Versicherung). Sie schützt vor Vermögensschäden, etwa als Folge falscher Entscheidungen. Anders als der Deutsche Corporate-Governance-Kodex, der einen angemessenen Selbstbehalt empfiehlt, verzichtet die Bahn trotz mehrfacher Absichtserklärungen bislang darauf, ihre Aufsichtsräte an einem Schadensfall finanziell zu beteiligen. Derart komfortabel abgesichert sind Bahnchef Grube und seine rechte Hand Kefer nicht. Denn bei D-&O-Versicherungen für Unternehmensvorstände ist ein gesetzlicher Selbstbehalt vorgeschrieben, der zehn Prozent der Schadenssumme, maximal den anderthalbfachen Satz der Jahresgrundvergütung umfasst. Voller Regress aus der Privatschatulle ist üblicherweise fällig, wenn den Verantwortlichen grobe Fahrlässigkeit oder vorsätzliches Handeln nachzuweisen ist.
Nach der Wahl kann’s anders kommen
Bislang brauchten sich aber weder Aufseher noch Vorstände der Bahn Gedanken über mögliche Folgen ihres Tuns oder Nichttuns machen. Denn Schadenersatzansprüche gegenüber dem Aufsichtsrat muss die Hauptversammlung der Bahn beschließen. Und die bestreitet aufgrund der Eigentumsverhältnisse derzeit der CSU-Bundesverkehrsminister und S-21-Protagonist Peter Ramsauer als „One-Man-Show“. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass es im Herbst nach der Bundestagswahl zu einem Regierungswechsel kommt. Ein neuer Verkehrsminister, unter Umständen sogar ein grüner, könnte die Bahnaufseher sowohl beim Weiterbau als auch beim Abbruch von Stuttgart 21 zur Verantwortung ziehen und Schadenersatz etwa wegen Untreue geltend machen. Auch die vorzeitige Vertragsverlängerung von Rüdiger Grube könnte den Mitgliedern noch schlaflose Nächte bereiten, falls eine zunehmend negative Eigenkapitalverzinsung im Zuge von Stuttgart 21, sprich weitere Kostensteigerungen, eine vorzeitige Entlassung des Bahnchefs aus seinem eben verlängerten Vertrag nach sich zieht.