Putsch-Vorwürfe gegen Soldaten: Generäle in Türkei vor Gericht
In dem Verfahren vor einem Zivilgericht in Istanbul wird den insgesamt 56 Angeklagten eine Verschwörung zum Sturz der Regierung vorgeworfen.
Gestern hat in Istanbul der mit Spannung erwartete Prozess gegen die beiden höchst dekorierten Generäle begonnen, die in der türkischen Republik jemals vor einem zivilen Gericht angeklagt wurden. Tolon und Eruygar gehörten in den Jahren 2003/04 beide dem Generalstab an und sollen versucht haben, einen Putsch gegen die gerade gewählte neue Regierung von Tayyip Erdogan zu inszenieren. Zusammen mit ihnen sitzen weitere 54 Personen auf der Anklagebank, denen allen eine Verschwörung mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen, angelastet wird.
Der Prozess ist der zweite Teil im so genannten "Ergenekon-Prozess", der bereits im Herbst 2008 mit der ersten Gruppe von 86 Angeklagten begann. Ergenekon, angeblich ein Ort aus der mytologischen Frühzeit der Turkvölker in Zentralasien, ist dabei das Code-Wort für eine nationalistische-säkulare Organisation, die sich verschworen haben soll, die islamisch gefärbte AKP, die 2002 erstmals die Wahlen in der Türkei gewann, gewaltsam zu stürzen.
Die Ergenekon-Prozesse gehen in der politischen Auseinandersetzung der Türkei aber weit über den konkreten Putschversuch gegen die AKP-Regierung hinaus. Sie sind eine Art Abrechnung mit dem so genannten "Deep State" insgesamt, dem militärisch-bürokratischen Komplex des Landes, der sich seit Jahrzehnten das Recht nimmt, jenseit der gewählten Regierungen und offiziellen Institutionen seine Interessen durchzusetzen. Ein besonders dunkles Kapitel des Deep State waren die Killerkommandos, von denen seit Anfang der 90er Jahre hunderte tatsächliche oder vermeintliche Sympathisanten der kurdischen PKK Guerilla ermordet wurden. Seit wenigen Monaten werden in den kurdisch bewohnten Provinzen im Osten des Landes nach den sterblichen Überresten dieser Verschwundenen gesucht. Erstmals soll in diesem Zusammenhang auch der frühere Gendarmerie-Kommandeur aus der Region angeklagt werden, dem die Verantwortung für 20 Morde angelastet wird.
Möglich wird dies auch deshalb, weil das türkische Parlament vor drei Wochen ein Gesetz verabschiedete, nach dem in bestimmten Fällen auch aktive Offiziere vor zivilen Gerichten angeklagt werden können. Bislang war dies ausschließlich der internen Militärjustiz vorbehalten.
Die Ergenekon-Lawine kam ins Rollen, als vor drei Jahren im Haus eines ehemaligen Offiziers ein umfangreiches Waffenlager gefunden wurde. Bald ließen sich von diesem Fundort aus auch Verbindungen zu einigen spektakulären Attentaten in 2006 und 2007 herstellen. Unter anderem wird vermutet, dass Ergenekon die Fäden bei dem Mord an dem armenischen Publizisten Hrand Dink gezogen hat. Zu den vermutlichen Ergenekon-Attentaten gehört auch die Ermordung eines hohen Richters. Ziel der Attentate war eine gesellschaftliche Destabilisierung mit der letztlich ein Putsch legitimiert werden sollte.
Die Prozesse sind eine Abrechnung mit dem militärischen und bürokratischen Komplex des Landes
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen