Tagebuch einer Bahnreise: "Wie wisch ju ä pläsent Johnny"

Neue Bekanntschaften schließt man während einer Bahnfahrt leicht, besonders, wenn diese mehrere Tage dauert. Ein Tagebuch über das Leben auf der Schiene.

Beim Bahnfahren lernt man viele nette Leute kennen. Bild: dpa

Sonntag

Liebes Tagebuch,

ich schreibe Dir heute aus dem Reisezentrum der Deutschen Bahn. Ich habe grade viel Zeit zu schreiben, denn ich will mir einen Fahrschein kaufen. Die circa 500 anderen Leute, die außer mir hier sind, wollen das ebenfalls, drum habe ich mir, um die Wartezeit zu überbrücken, ein bisschen Arbeit und was zu lesen mitgebracht: "Harry Potter", Band 1-7.

Die Deutsche Bahn hat schon wieder ein neues Preissystem. Wenn man seinen Fahrschein z. B. drei Tage vor Abfahrt des Zuges bucht, kostet er weniger. Ich bin deshalb schon seit vorgestern hier. Leider bin ich seitdem noch nicht an die Reihe gekommen, aber dafür kenne ich die meisten anderen hier schon mit Vornamen. Mit einigen bin ich inzwischen gut befreundet. Ab und zu lade ich sie in mein Zelt ein, und wir kochen uns was Leckeres auf meinem Campigkocher. Ich hoffe, mein Konservenvorrat reicht noch bis nächsten Dienstag, da fährt nämlich mein Zug.

Nächster Dienstag

Wie ein richtiger Kabarettist sieht Bodo Wartke nicht aus. Mit seinen 70er-Jahre-Hemden und dem eigenwilligen Haarschnitt kommt er eher wie ein überindividualisierter BWLer daher - oder Jurist. Aber nicht wie einer, der mit dem Deutschen Kleinkunstpreis ausgezeichnet worden ist. Dennoch: Bodo Wartke wurde mit ebenjenem Preis bedacht - und etlichen weiteren. Die chansonselnde Karriere des 32-Jährigen beginnt früh: Im zarten Alter von 19 Jahren tritt das Ärzte- und Einzelkind Wartke zum ersten Mal abendfüllend in seiner damaligen Schule auf. Nach dem Zivildienst zieht es ihn zur Medizin - nur wird aus dem Studium nichts. Stattdessen schreibt er sich für Physik ein. Bald ist allerdings schon wieder Schluss mit Thermodynamik und Co., Wartke bewirbt sich an der UdK Berlin für ein Musikstudium, wird aber abgelehnt. Im zweiten Anlauf wird er schließlich genommen.

Es folgt ein künstlerischer Werdegang, der sich in etwa so liest: Mitglied der Celler Schule, etliche 1. Plätze bei Chanson- und Kleinkunstwettbewerben, Publikums-, Comedy- und Förderpreise en masse (z. B. "Mindener Stichling", "St. Ingberter Pfanne"), seit 2006 Moderation der "Songs an einem Sommerabend" des BR, Deutscher Kleinkunstpreis der Sparte "Chanson" 2004, drei veröffentlichte Bücher, sechs CDs, drei DVDs, ein Theaterstück. Wartke, der mit den "schmissigen Liedern mit exzellent gereimten Texten voller Wortwitz", wie es auf seiner Website heißt, scheint also nicht nur ein lustiger Spießer zu sein, sondern auch noch ein ziemlich erfolgreicher. HCP

(früher Morgen:)

Liebes Tagebuch,

es könnte sein, dass ich heute doch noch rechtzeitig drankomme. Sie haben nämlich einen zweiten Schalter aufgemacht. So kriege ich zwar keinen supergünstigen Frühbucher-Sparpreis mehr, dafür aber vielleicht - und das ist ja auch nicht schlecht - meinen Zug.

(früher Nachmittag:)

Liebes Tagebuch,

der Bahnbedienstete am Schalter hat mir meinen Fahrschein netterweise doch zum supergünstigen Frühbucher-Sparpreis verkauft. Mein Zug hat nämlich schätzungsweise drei Tage Verspätung. Zum Glück, denn vom gesparten Geld kann ich meinen Konservenvorrat wieder auffrischen.

Freitag

Liebes Tagebuch,

als ich vorhin in den Zug eingestiegen bin, haben mir alle vom Bahnsteig gewunken. Es war herzzerreißend, aber es ist tröstlich zu wissen, dass ich sie bei meiner Rückkehr in zwei Wochen eh fast alle wiedersehen werde. Mein Zelt habe ich einem armen Geschäftsmann geschenkt, der versucht hatte, sich seinen Fahrschein am Automaten zu lösen.

Der ICE, mit dem ich jetzt fahre, ist sehr voll, doch ich habe einen Stehplatz vor dem Klo ergattern können. Hier kann ich mich schön anlehnen, zumindest solange die Klotür sich nicht öffnet. Aber die fünf Leute, die drin sind, kommen eh selten nach draußen; es sei denn, es muss mal jemand aufs Klo.

Samstag

Liebes Tagebuch,

wegen der maroden Gleise fährt der Zug langsamer, als er eigentlich könnte. Das macht aber nichts. So können wir in aller Ruhe die malerische Landschaft genießen. Das Wetter ist traumhaft, und es sind viele Fahrradfahrer unterwegs. Sie winken uns immer fröhlich zu, wenn sie an uns vorbeifahren.

Vor jedem Bahnhof gibt der Zugchef über Lautsprecher die Anschlusszüge der letzten paar Monate durch, die wir auch fast alle noch erreichen. Er wünscht allen Fahrgästen, die aussteigen, zum Abschied noch einen schönen Tag und bedankt sich bei ihnen für das Reisen mit der Deutschen Bahn. Aber aussteigen tut eigentlich kaum jemand, denn dazu sind ja nur die in der Lage, die einen Stehplatz in unmittelbarer Nähe zu einer Tür ergattert haben - und das sind ja meistens die, die grade erst eingestiegen sind.

Anschließend übersetzt der Zugchef seine gesamte Durchsage immer nochmal auf Englisch. Schließlich war der ICE der "official transport partner" für die Fußball-Europameisterschaft vom letzten Jahr. Für die hatte sich England zwar gar nicht qualifiziert, für die Weltmeisterschaft 2006 aber schon. Und tatsächlich, hier an Bord befinden sich noch einige Endspielbesucher, die damals in Berlin zugestiegen sind. Unter ihnen sind auch ein paar Engländer, sie verstehen aber kein Wort von dem, was der Zugchef sagt. Er sagt nämlich Sätze wie "Szänk ju foa träwelling wis Deutsche Bahn" oder "Wie wisch ju ä pläsent Johnny".

Neben mir steht ein Engländer, der Johnny heißt. Er freut sich jedes Mal, auch wenn er den Rest der Ansage nicht versteht, über die persönliche Begrüßung. Dies sei in England nicht so, erklärt er mir. Er fange an, Deutschland immer mehr zu mögen. Er könne sich sogar vorstellen, hier zu leben, zumal eh nicht klar sei, ob er seine Heimat jemals wiedersehen werde.

Der Zugchef macht schon wieder eine Durchsage. Diesmal möchte er uns auf den gastronomischen Service an Bord des Zuges aufmerksam machen und empfiehlt uns ein paar Gerichte von der Speisekarte, die für uns im Speisewagen vom freundlichen Service-Team aufgetaut werden, z. B. ein Croissant mit Butter und Honig für 7,90 Euro. Das hört sich verlockend an, aber die meisten Passagiere haben eh nur D-Mark dabei, und zum Speisewagen zu gelangen ist sowieso unmöglich, denn hier ist absolut kein Durchkommen.

Auch nicht für den Schaffner, deshalb erleichtern wir ihm die Arbeit und kontrollieren unsere Fahrscheine gegenseitig. Hin und wieder brauchen wir ihn aber doch, wenn es darum geht, Fahrscheine für die Passagiere nachzulösen, die seit der Abfahrt des Zuges hier geboren wurden.

Montag

Liebes Tagebuch,

der Zug ist vorhin mitten in der Nacht wieder mal auf offener Strecke stehen geblieben.

Der Zugchef hat gerade über Lautsprecher durchgegeben, die Ursache für die kleine Verzögerung im Betriebsablauf sei diesmal kein überraschend eingetretener Lokführerstreik, sondern ein brennender Triebwagen.

Um der ansteigenden Hitze im Inneren des Zuges entgegenzuwirken, werden vom freundlichen Service-Team gekühlte Getränke verteilt. Leider ist nur noch Kaffee da. Immerhin.

Der Strom ist grade ausgefallen. Doch der Flammenschein spendet genügend Licht, so dass ich Dir diese Zeilen noch schreiben kann:

Liebes Tagebuch, ich bin so froh, dass ich nicht mit dem Auto gefahren bin. Ich hätte sonst nie so viele liebe, nette Menschen kennen gelernt. Selten erlebe ich eine Reise so bewusst, intensiv und naturverbunden. Schön, dass es in dieser schnelllebigen Zeit noch so etwas gibt wie die Deutsche Bahn.

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