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Archiv-Artikel

Veränderung ist aller Tage Abend

Im Herbst neigen sowohl Hasen als auch Selbstmörder zum Selbstmord – und viele Vögel bekommen die Grippe

Es wird Herbst. Aus Raider wird Twix, aus Haider Kaczynski, aus Bochum Wattenscheid und aus Bewag Vattenfall. Alles verändert sich, vieles stirbt, nichts bleibt am Leben.

Watten Fall für die großen Religionsgemeinschaften! Jetzt sehen sie ihre Chance gekommen: Sinn stiften, Geld stiften lassen, mitsamt dem Geld stiften gehen. Zahllose Priester verstopfen mit gepackten Geldköfferchen und untergehakten Konkubinen die Schalter unserer Flughäfen und flüstern fromm: „Zweimal Hawaii, oder, nee, Mauritius – na egal, Hauptsache in den Süden, und in jedem Fall nur Hinflug, und den Menschen ein Wohlgefallen …“

Im Herbst steigt auch die Zahl der Selbstmörder. In langen Schlagen stehen die Kandidaten auf den U-Bahn-Steigen und warten geduldig auf den einfahrenden Zug. Es kommt jedes Mal nur einer, höchstens zwei, dran – dann muss erneut die Strecke geräumt, der Zug geputzt und der Fahrer in die Irrenanstalt gebracht werden. Das kostet Zeit, so dass zum Betriebsschluss viele unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen müssen. Wenn sie Glück haben, finden sie unterwegs einen Pistolenverkäufer. Daheim ziehen sie sich warme Puschen an und kochen sich einen schönen heißen Tee. Ja, auch gemütlich ist es im Herbst. Sie stecken sich noch ein Plätzchen in den Mund, Spekulatius, danach den Lauf der Pistole und drücken ab. Es knallt.

Es knallt überhaupt oft im Herbst, vor allem im Wald. Es ist Jagdsaison, und reiche Naturfreunde ballern auf alles, was sich bewegt. Danach bewegt es sich nicht mehr. Am Feldrand salutieren die Hasen in Reih und Glied. Sie könnten auch weglaufen, aber sie haben keine Lust. Der bevorstehende Winter wird hart genug – den tut sich kaum ein vernünftig denkender Hase an. Die Jagdsaison ist für die Hasen praktisch das, was die Betriebszeiten für die U-Bahn-Selbstmörder sind. Wenn die Jäger das wüssten, wären sie vielleicht weniger stolz auf ihre Abschussquote. Extrem stolz sind sie, wenn sie Vögel erwischen, weil die immer so flattern. Viele Vögel haben jetzt auch Grippe: Wenn die zittern oder niesen, sind sie sogar noch schwerer zu treffen.

Dunkel ist es im Herbst. Das liegt daran, dass die Sonne großenteils den Löffel hingeschmissen hat. Viele haben Angst im Herbst: Die Hasen, dass sie nicht erwischt werden, die Priester, dass sie erwischt werden, die Jäger, dass sie keinen erwischen, und die Selbstmörder vor dem Betriebsschluss. Ich wiederum habe im Herbst fortwährend Angst, dass fremde Männer nachts bei mir die Tür aufbrechen, mich erschlagen und aus dem Fenster werfen.

Im Herbst müssen besonders viele Menschen in die Irrenanstalt. Sie ertragen die Dunkelheit nicht und ihre Ängste. Wieder andere haben Selbstmörder überfahren. In der Irrenanstalt gucken sie abends im Aufenthaltsraum Spielfilme und erklären sich gegenseitig die Handlung: „Der böse Mann stirbt jetzt …“ Eine skurrile Mischung aus tiefem Mitgefühl, großer Schadenfreude und intensivem Desinteresse verleiht ihrem Tonfall dabei eine spektakuläre Färbung, wie sie im Grunde nur der Herbst für uns bereithält – davon kann so mancher Baum ein Lied singen.

Die Vögel singen dagegen keine Lieder mehr – sie hauen lieber ab. Diejenigen, denen der Weg wegen ihres Schnupfens zu anstrengend ist oder wegen der Jäger zu gefährlich, schließen sich zu Schwärmen zusammen und schmuggeln sich als blinde Passagiere in die Triebwerke fliegender Passagiermaschinen. Die stürzen daraufhin oft ab. Dann fluchen die Priester, und die Konkubinen wundern sich.

ULI HANNEMANN