WEIHNACHTSFEIER IN DER TAZ
: Rudimentärgrammatik des Soziolekts

VON RENÉ HAMANN

Draußen ist Russland. Die Sektion Westpolen hat sich bereits umbenannt. Zum Glück trage ich eine Brille, die hält die Augen warm. Kleiderberge, aus denen kleine Nasen schauen, stolpern frierend durch die Straßen dieser westukrainischen Stadt, die sich immer noch Berlin nennt und nicht etwa Bekanntheitsgrad (Leningrad, Stalingrad, Bekanntheitsgrad). Jemand versucht zu spucken; die Spucke fällt klirrend zu Boden. Als ich mit Barca-Schal auf dem Weg zum tazcafé an zwei unscheinbaren Mädchen vorbeilaufe, beginnen diese, mir „Scheiß Leverkusen! Wir singen: Scheiß Leverkusen!“ hinterherzusingen. Ich wundere mich. Im tazcafé ist man vor Diebstahl, Alkoholmissbrauch, Zigarettenrauch und anderen Dingen nicht gefeit. Seriöse Redakteure betrinken sich mit Cuba Libre (nostalgische Variante) oder Gin Tonic (die Bitterstoffe schützen vor Malaria). Es ist Weihnachtsfeier, alles ist umsonst. Die DJane legt Kraut und Rüben auf; später wird auf „Papa Was a Rolling Stone“, kurz darauf überschwänglich auf „Smells Like Teen Spirit“ und „Killing in the Name“ getanzt. Der Gratisalkohol sorgt für gute Stimmung, für ungezügelte Libertinage fehlt vermutlich die Untergangsstimmung. Die Party fällt plötzlich in sich zusammen, die meisten gehen um circa 2 Uhr, der traurige Rest bleibt da. Taxis bleiben in Schneewolken stecken. Wir nehmen den Bus, Einzelticket, gültig für alle Fahrten, das ganze Wochenende. Weihnachtsfeier in Bussen der BVG.

Am Samstag bilden sich Eisblumen auf den Brillen. Der Landwehrkanal ist beinah zugefroren, die Eisbrecherente schwimmt den anderen voraus. Im Mona Lisa, einer eher durchwachsenen Pizzeria an der Hobrechtbrücke, wird Fußball geschaut. Die Spieler bewegen sich wie unter Appetitzüglern gesetzt über weiße Spielflächen; die Rasenheizungen tun ihr Bestes, es ist zu kalt für einfachen Defensivfußball und für Torlosigkeit. Es wird schnell gespielt, es fallen Tore. Hertha verliert 2:5. Die Kälte kriecht durch die Glasfronten der Pizzeria. Die Leute sitzen in Pelzmänteln. Es wird wieder Briefe hageln.

Noch später sitzen wir in einer gut geheizten Wohnung bei Risotto und unterhalten uns über Wetterfühligkeit. Ist bei diesen Temperaturen natürlich besonders schlimm. Um zu zeigen, dass wir nicht aus Zucker sind, wagen wir uns erneut in die Kälte, aber für eine Schneeballschlacht ist der Schnee zu fein. Taxis mit Schneeketten rollen vorbei. Wir denken an den unwirtlichsten Ort der Welt. Der unwirtlichste Ort der Welt liegt in Sibirien. Neun Monate Winter, drei Monate Mückenplage.

Nach einer Kurzstrecke Treffen in „The Forgotten Bar“, einer Off-Galerie in der Boppstraße (Bopp wie in Hardbop, Zweierbob, Dylanbob). Es gibt Lachs. Schräge Off-Kunst. Als solche nicht mal schlecht. Die Wände sehen improvisiert aus. Die Leute unterhalten sich in ruhiger Tonlage. Das Fehlen von Musik fällt positiv auf. In der Minibar, in die wir schlussendlich auch noch einfallen, läuft elektronische Musik, die sich nie zu ändern scheint; sie ist so unauffällig, dass man sie gar nicht richtig wahrnimmt. Wie damals in den Neunzigern. Die ja wiederkommen sollen, wie es heißt. 2 Unlimited auf Reunion-Tour. Redakteure tanzen auf Nirvana. In der Minibar ist gut knutschen, was sich diesmal andere Leute gesagt haben. Zum Ende hin fällt noch der Satz „Jemand hat meine Schapka geklaut!“, anschließend stapfen wir wieder heimwärts.

Zum Schluss selbst und von anderen aufgeschnappte Sätze. „Wir froren wie die Schneider.“ „Die Kälte ist minus siebzehn Grad.“ „Diese Rudimentärgrammatik weist auf einen Soziolekt hin.“