Roger de Weck über das Minarettverbot: "Verstoß gegen Menschenrechte"
Das Minarettverbot ist ein Zeichen dafür, dass sein Heimatland durch den Wind ist, sagt der Publizist Roger de Weck. Die Schweizer hätten zwar scharfen Sinn für Demokratie, aber kaum für den Rechtsstaat.
taz: Herr de Weck, wie ist die Stimmung in der Schweiz zehn Tage nach dem Volksentscheid für das Minarettverbot?
Roger de Weck: In meinem Umfeld ist sie bedrückt. Der Schock hält an: Das eigene Volk hat beschlossen, eine Minderheit zu diskriminieren. Die einen wollen jetzt erst recht kämpfen. Andere sind gelähmt. Hingegen ist die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) nun im Machtrausch.
Sie gehören also auch zu der Gruppe von Schweizern, die bis zuletzt nicht an die Durchsetzung des Minarettverbots geglaubt haben?
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Volk diese aberwitzige Entscheidung trifft. Denn die Schweiz hat keine schwerwiegenden Probleme mit ihren Muslimen. Sie sind gut integriert, eine Parallelgesellschaft gibt es nicht, die muslimische Gemeinde ist maßvoll und konstruktiv. Mit anderen Worten: Es ist nicht ein Problem gelöst worden, es wurde eines geschaffen.
Die Mehrheit der Schweizer Muslime kommen vom Balkan. Es sind überwiegend Kosovoalbaner, die nicht besonders religiös sind, geschweige denn radikal. Für die bosnischen Muslime ist die Visafrage viel entscheidender als die Glaubensfrage. Wovor haben die Menschen also Angst?
Roger de Weck, Publizist, lebt in Zürich und Berlin. Er schreibt regelmässig für die Sonntagszeitung und persönlich. Er ist Moderator der Fernsehsendug "Sternstunden" (SF 1). Zuvor war der 56-jährige Chefredakteur des Züricher Tages-Anzeigers und der Wochenzeitung Die Zeit.
De Weck ist Herausgeber der außenpolitischen Buchreihe "Standpunkte" (Edition Körber-Stiftung), Stiftungsrat des Karlspreises in Aachen und Ehrendoktor der Universität Luzern. Er hat in St. Gallen Volkswirtschaft studiert. Zuletzt von ihm im November erschienen: "Nach der Krise. Gibt es einen anderen Kapitalismus?", Verlag Nagel & Kimche, 112 Seiten, 10 €.
Unwissenheit und Furcht sind dort am größten, wo es kein Zusammenleben gibt. In der Schweiz leben 400.000 Muslime, knapp fünf Prozent der Einwohner. Es gibt 150 Moscheen und es stehen vier Minarette. Auffällig ist, dass ländliche Gebiete der Verbotsinitiative am stärksten zustimmten. Wohingegen die Städter, die mit Muslimen eng zusammenleben, eher gegen das Verbot stimmten.
Was war ausschlaggebend für die Minarettgegner?
Das Bild des Islam, wie der Medienbetrieb es transportiert. Dieses wird verkörpert durch den iranischen Präsidenten Ahmadinedschad, den Terroristen Ussama Bin Laden, durch den libyschen Gewaltherrscher Gaddafi, der zwei Schweizer Geiseln hält. Überdies herrscht ein Klima der Fremdenfeindlichkeit. Wir haben die stärkste populistische Partei Europas, mit einem Wähleranteil von 27 Prozent. Die SVP ist eine Regierungspartei - und benutzt Methoden, die in keinem EU-Land zulässig wären. Die Entwicklung in der Eidgenossenschaft, die einst für ihr Augenmaß bekannt war, ist besorgniserregend.
Haben die Populisten verführt, indem sie an die niederen Instinkte appellierten, oder machten sie sich zunutze, was ohnehin vorhanden ist: Misstrauen?
Beides. Verständlicherweise wecken Teile des Islam Ängste im Westen. Das nutzt die Partei, statt zu differenzieren. Sie macht Stimmung, um Stimmen zu machen. Ausländerfeindlichkeit ist ihre Triebfeder. Die Bewegung steigt seit zwei Jahrzehnten unaufhaltsam. Der starke Mann Christoph Blocher hat einerseits die vielen Schweizer Globalisierungsgewinner mit Ultraliberalismus und wirtschaftlichem Internationalismus bedient. Andererseits hat er die Verlierer der Globalisierung, die Ängstlichen, mit Nationalismus getröstet: Wir sind überlegen, die anderen sind minderwertig. Das Ergebnis der Volksabstimmung erklärt sich auch vor dem Hintergrund der Krise, der starken Einwanderung aus der EU und damit verbunden der härteren Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.
Sie gehen also davon aus, dass diejenigen, die den Islamismus bekämpfen wollen, Angst vor Muslimen haben und sich unbehaglich bei dem Gedanken an den Islam fühlen, mehrheitlich für das Verbot gestimmt haben?
So ist es. Diesmal haben weit mehr Menschen mit Ja gestimmt, als dem üblichen Reservoir an Fremdenfeindlichkeit entspricht. Die Schweizer Geschichte ist ein steter Widerstreit zweier alpiner Traditionen: einerseits die Alpen als Ort des Rückzugs, um sich aus den Wirrnissen der Welt herauszuhalten. Andererseits die Alpenpässe als Ort des Transits, des Handels, der Begegnung und Öffnung. Derzeit überwiegt die Rückzugstradition.
Die Schweizer Justizministerin bemüht sich um eine Imagepflege, das Votum sei "keine Abstimmung gegen den Islam" gewesen. Wirklich?
Was soll es denn sonst gewesen sein? Unmittelbar nach dem Volksentscheid tat der Vorsitzende der Christdemokraten, Christophe Darbellay, sogar den kleinen Schritt von der Islamophobie zum Antisemitismus: Er forderte ein Verbot jüdischer und muslimischer Friedhöfe. Er musste zwar zurückrudern, aber daran sieht man, dass die bürgerliche Mitte in den Sog des Populismus gerät.
Haben die Medienmacher, zu denen auch Sie gehören, bei der Aufklärung versagt?
Ein Teil der Massenmedien lässt sich von den Populisten instrumentalisieren. Populisten und einige Journalisten nutzen dieselben Stilmittel: das Bewirtschaften von Ängsten, die Emotionalisierung; die Personalisierung jedes Konflikts, ohne die weit wichtigeren Strukturen und Mechanismen darzustellen; die Lust am Konflikt, obwohl lösungsorientierte Politik aus Kompromissen - also dem Ausgleich divergierender Interessen - besteht. Populisten und Boulevardisten preisen in einer komplexen Welt einfache Lösungen an. Sie grenzen aus: wir und die anderen.
Welche Medien waren das?
Allen voran die einst liberale Weltwoche, heute das Kampfblatt der SVP.
Die Schweiz bekommt nun Applaus vom rechten Rand Europas. Ein Beispiel sind die Niederlande: Der umtriebige Rechtspopulist Geert Wilders will eine solche Volksabstimmung nun auch in Holland durchsetzen …
… 1848 entstand die moderne Eidgenossenschaft. Damals setzten sich die Liberalen einzig in der Schweiz durch, während sie in Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich unterlagen. Damals strahlte Schweizer Fortschrittlichkeit in ganz Europa aus. Heute übernehmen Europas Rechtsextreme die Parolen unserer Populisten. Traurig ist das.
Hat sich die Schweiz also zurückentwickelt?
Die direkte Demokratie ist zweischneidig, manchmal erzkonservativ, manchmal äußerst fortschrittlich. Dank ihr haben wir eine vorbildliche Verkehrspolitik der Verlagerung zum Öffentlichen-Verkehr, zu Bussen und Bahnen.
Das Bankgeheimnis wurde mehr oder minder geopfert; kaum ist die Schweiz dem Schengener Abkommen beigetreten, wurde sie zum Steuer-Schurken ernannt; und der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi demütigt das Land und fordert sogar seine Auflösung. Ist das Selbstbewusstsein des Alpenvolkes angeknackst?
Das Land ist durch den Wind. Der Schweizer Konsens zerfranst, ausgerechnet die Eidgenossenschaft wird unberechenbar. Der Ruf des Finanzplatzes ist angeschlagen, die größte Bank UBS entging knapp der Katastrophe, der größte Versicherer geriet in Bedrängnis. Das Verhältnis zur Europäischen Union stimmt nicht mehr. Die Beziehung zu den USA ist verspannt. Das nährt Ressentiments. Jetzt legen wir uns auch noch mit der islamischen Welt an. Ein kleines Land, das sich mit dem halben Globus zankt, wird nicht glücklich.
Fassen wir zusammen: Die Schweizer sind verunsichert und momentan besonders empfänglich für nationalistische Parolen. Müssen Grundrechte dann nicht ganz besonders geschützt werden? Darf etwa die Religionsfreiheit bei irrationalen Ängsten zu einem Gegenstand von Volksabstimmungen gemacht werden?
Zu meiner Verblüffung musste ich feststellen, dass mein Land zwar einen scharfen Sinn hat für Demokratie, aber kaum einen für den Rechtsstaat. Bei uns kann das Volk die Verfassung ändern, und wir haben kein Verfassungsgericht. Die Populisten wollen Volkswillkür: Sie lancieren lauter Bürgerbegehren, die gegen die Menschenrechte verstoßen. Schlag auf Schlag trifft das Volk menschenrechtswidrige Entscheidungen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg umstoßen wird. Und bereits reden Populisten davon, die Europäische Menschenrechtskonvention zu kündigen.
Was sagt das über das Demokratieverständnis der Schweizer aus?
Es verstärkt sich die Tendenz in Richtung Volkswillkür, Volksabsolutismus. Das Parlament befindet darüber, ob ein Volksentscheid zulässig ist. Aber die Volksvertreter lassen sich von den Populisten einschüchtern und ziehen die Grenzen viel zu lasch: Sie lassen menschenrechtsverletzende Bürgerbegehren zu in der Hoffnung, die Bürger würden Nein sagen. Aber das Volk hat wiederholt Ja gesagt. Wir brauchen eine unabhängige Instanz, die geplante Bürgerbegehren auf ihre Kompatibilität mit der Menschenrechtskonvention prüft.
Von Muslimen wird zu Recht in der Schweiz verlangt, sich zu ihren Grundwerten zu bekennen. Das Grundrecht der Religionsfreiheit wird bei ihnen aber nun beschnitten. Sind die Muslime jetzt noch ein Teil der Schweizer Gesellschaft?
Die moderne Schweiz ist - vereinfacht gesagt - 1848 aus einem Bürgerkrieg zwischen liberalen, industriellen Protestanten und konservativen, agrarischen Katholiken hervorgegangen. Die Katholiken unterlagen und wurden lang diskriminiert. Die letzten Überreste dieser Diskriminierung wurden erst 2001 aufgehoben! Und nun sind die Muslime dran. Ausgerechnet das Land des Roten Kreuzes, des Roten Halbmondes und des humanitären Völkerrechts diskriminiert Muslime. Aber zum Glück wollen sich einige Kräfte wehren.
Wie?
Ich gehöre zu den Gründern eines Clubs von Sozialliberalen Intellektuellen, dem "Club Helvétique", in dem solche Fragen debattiert werden. Die einen überlegen sich eine Volksinitiative für einen Toleranz-Artikel in der Verfassung. Die anderen wollen den langen Rechtsweg nach Straßburg gehen. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.
Herr de Weck, können Sie jetzt überhaupt noch stolz auf Ihr Land sein?
Gegenfrage: Kann ich mich über einen Volksentscheid schämen und trotzdem aufs eigene Land stolz sein? Ja, das kann ich. Wäre ich nicht stolz, würde ich mich auch nicht schämen.
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