ARD-Spielfim "Keine Angst": Mauern gegen den Abstieg

Aelrun Goettes Spielfilm "Keine Angst" zeigt die tiefe Kluft zwischen Milieus in Deutschland - und kommt damit zur richtigen Zeit (Mi., 20.15 Uhr, ARD)

Nach außen gibt Melanie (Carolyn Sophia Genzkow) die Königin im Kiez. Doch in ihrem Innern ist sie sehr verletzlich. Bild: ard

"Die können ruhig was tun für ihr Geld und nicht nur rumsitzen und immer dicker werden. Die sollte man bemühen, das hier wegzuschaffen."

"Die", das sind die anderen, die Hartz-IV-Empfänger. "Das hier" sind die Dreckhaufen, die der Winter auf den Straßen von Berlin zurückgelassen hat. Und angesichts der Kälte, mit der sich die Berliner in einer Straßenumfrage bei Anne Will äußerten, hätte man glauben können, dass diese kaum einen Unterschied machen zwischen Straßendreck und Hartz-IV-Beziehern. Ein Bürgerärgernis, befeuert durch eine unwürdige Polit- und Boulevarddebatte über "altrömische Dekadenz" und den von Presse und Fernsehen zum "faulsten Arbeitslosen" erkorenen Arno Dübel. Auch Aelrun Goette hat die Sendung gesehen. Sie weiß: "Keine Angst" kommt genau zur richtigen Zeit.

Es ist die Geschichte der 14-jährigen Becky (Michelle Barthel), die in einem sozialen Brennpunkt aufwächst. Ihr Alltag ist bestimmt von Gewalt, Armut und Verzweiflung: Mutter Corinna (Dagmar Leesch) ist alkoholkrank und hat sich aufgegeben. Becky kümmert sich um die drei kleinen Geschwister und hält die Familie selbst dann zusammen, als der aggressive Thomas (Frank Giering) in die unentrinnbare Enge der Sozialwohnung zieht. Nur wenige Stunden zuvor hatte die Nachbarin ihn rausgeschmissen.

Goette sagt dennoch, dass "Keine Angst" ein positiver Film sei: "Er erzählt von der Chance, Grenzen zu überwinden. Die Hoffnung liegt in der Kraft der Jugendlichen, die mit ihrer Liebe Mauern einreißen." Diese Liebe ist die zwischen Becky und Bente (Max Hegewald), einem Jungen aus einer anderen Welt mit überfürsorglichen Eltern und eigenem Zimmer im Reihenhaus.

"Die Erwachsenen sind nicht böse, aber gefangen in ihren Strukturen", betont Goette. "Aber die Jugendlichen haben einen unbedingten Lebenswillen, deshalb haben sie die Kraft, diese Grenzen zu überwinden. Und deshalb ist diese Liebesgeschichte realistisch."

Goettes Filme bewegen sich stets an Abgründen. Sie zwingt den Zuschauer, ihrem Einblick bis zur Grenze des Erträglichen zu folgen. In der Dokumentation "Die Kinder sind tot", die den deutschen Fernsehpreis erhielt, porträtierte sie eine überforderte Mutter, die in einer Hochhaussiedlung in Frankfurt/Oder ihre Söhne für Tage allein zurückließ, bis sie verdursteten. "Keine Angst" bewegt sich an der Grenze zwischen Dokumentar- und Spielfilm. Goette kennt das Milieu: Für "Die Kinder sind tot" lebte die 43-Jährige eineinhalb Jahre in einer solchen Hochhaussiedlung. "Ich kenne diese Welt von innen, ich weiß, wie sie riecht, schmeckt und klingt."

"Keine Angst" ist deshalb frei von Sozialromantik und Prekariatsklischees. Dazu passt, dass der Film nicht in Berliner Plattenbauten spielt, sondern in den sozialen Brennpunkten Kölns. Ein Teil der Jugendgang wurde in Köln-Porz gecastet: "Das war ein großer Gewinn. Es ist ihr Alltag. Und den haben sie in den Film eingebracht. Am Anfang waren sie misstrauisch und haben uns beschimpft. Ich hab das verstanden und uns in der Pflicht gesehen, sie davon zu überzeugen, dass wir keinen schmutzigen Film über eine schmutzige Welt machen wollen."

Auch das macht die authentische Kraft und Würde des Films aus. Goette sagt, sie wolle "Begegnungswelten schaffen", ein Fenster öffnen zu einer Welt, die die meisten nur aus Statistiken oder Talkshows kennen. Sie zeigt Gewalt und Chaos schonungslos, aber nicht voyeuristisch. Sie macht damit Strukturen erkennbar - und individuelles Leid. "Keine Angst" ist auch Spiegel des bürgerlichen Milieus: "Aus Angst vor dem Abstieg bauen wir Mauern aus Vorurteilen um uns auf. Diese Angst beherrscht inzwischen die deutsche Mittelschicht. Es gibt keine Begegnungen mehr, die Grenzen werden immer undurchdringlicher."

Besonders deutlich wird dies in den Begegnungen mit Bentes Eltern. Es ist eine harmlose Szene, in der Becky mit Bente und seinen Eltern am Kaffeetisch sitzt. Doch die Sprachlosigkeit ist unerträglich. Weniger harmlos ist Beckys spätere verzweifelte Flucht zu Bente, nachdem sie von Thomas vergewaltigt wurde. Sie trifft am Gartentor auf Bentes Mutter, deren Sohn auf dem Weg ins Internat ist, in das ihn seit Vater überstürzt stecken will. Sie drückt Becky 50 Euro in die Hand. "Du Fotze" ist ihre Antwort darauf.

Aelrun Goette sagt, ihre Filme geben keine Antwort. Aber sie wünscht sich, "dass sich die Leute von der Geschichte berühren lassen". Dass sie nachdenken darüber, "wie wir unsere Mauern wieder öffnen können." "Keine Angst" - der Titel ist eine Aufforderung.

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