Es wogen die Nachthemdengespenster

ANTIWELLNESS Das Forum Expanded entdeckt das ehemalige Krematorium im Wedding als würdevoll-makabren Ausstellungsraum

Es ist ja in Ordnung, dass sich Kunst nicht mehr allein nur im Objekt realisiert, sondern in der Recherche, der Handlungsanweisung, in Kommunikationsprozessen ganz allgemein, aber sollten die dann nicht ganz spezifisch sein?

VON BRIGITTE WERNEBURG

Die Zeitläufte sind dem Werk von Hélio Oiticica (1937–1980) nicht unbedingt günstig. Was heute wie der übliche, spießige Partyspaß wirkt – nämlich die Aufführung von „Cosmococa 4 Nocagions“ im Liquidrom, wobei man für das Sounderlebnis in den Pool steigen muss – war in den 1970er Jahren noch ein provokatives Experiment, die Rolle des cinematografischen Bildes und der Möglichkeiten des Rezipienten zu untersuchen und neu zu definieren. Heute, in den Zeiten der totalen Eventisierung des Kunstbetriebs, können diese Aspekte von Oiticicas 9-teiliger, Quasi-Cinema genannter Werkserie nur durch eine äußerst sorgfältige Präsentation und Kontextualisierung in Erinnerung gerufen werden.

Weder in der Wellness-Atmosphäre des Liquidroms mit seiner viel zu kleinen Projektion noch im Hamburger Bahnhof, wo man „Cosmococa 6 Coke’s Head Soup“ als Teenager-Hüpfburg erlebt, gelingt das. Ganz offensichtlich sagt der Stones-Song „Sister Morphine“ den Mädchen und Jungs gar nichts, ja, er weckt noch nicht einmal Lust, mal kurz hinzuhören, und das Plakat mit dem Mick-Jagger-Gesicht, das zur Neuerscheinung der Stones-Platte „Goat’s Head Soup“ erschien und das Helio Oiticica mit Kokain überschüttet und verfremdet hatte, ist für sie auch nur Schnee von gestern. Um den brasilianischen Künstler zu entdecken, wird man wohl im Herbst nach Frankfurt reisen müssen, wo ihn das MMK in einer hoffentlich sorgsam arrangierten Retrospektive vorstellt.

Nach alter Regel hat das Forum Expanded, unter dessen Ägide jetzt Hélio Oiticicas Coca-Kosmos nach Berlin kam, wieder einen neuen Ausstellungsraum entdeckt. Dieses Jahr ist es das Silent Green Kulturquartier im Wedding, ein ehemaliges Krematorium, das in naher Zukunft zu einem Kulturraum umgewidmet werden soll und jetzt gewissermaßen einen ersten Probelauf absolviert. Die Architektur ist entsprechend würdevoll oktagonal im Hauptraum und ein bisschen makaber im Urnengang. Kurz, ein großartiger Ort für Videoprojektionen.

Lucien Castaing-Taylor und Verena Paravale haben die Situation optimal genutzt, indem sie ihren Dokumentarfilm „Leviathan“ über die Fischindustrie von Neuengland in viele kleine Loops zerlegten, die sie nun in die Urnennischen hineinprojizieren. „Canst Thou Draw Out Leviathan With a Hook?“ zeigt das Meer und die Meeresbewohner, zu denen nicht nur Fische und weitere Klein- und Kleinstlebewesen gehören, sondern auch veritable Wölfe, bärtige Männer und zarte Feen, die wie Ophelia im Wasser zu treiben scheinen.

Durch die Bearbeitung ihres Materials entstanden Bilder, die man als Betrachter nicht wirklich lokalisieren kann. Statt Wasser scheint man bei Taylor/Paravale dichtes Baumgestrüpp zu sehen, in dem man ein wildes Tier zu erkennen meint, oder man glaubt, in den Gang eines Spukhauses hineingeleitet zu werden, in dem einem veritable Nachthemdengespenster begegnen.

In der etwas nüchterneren Atmosphäre des oberen Stockwerks ist Nina Fischers und Maroan el Sanis Videoinstallation „Spirits Closing Their Eyes“ richtig platziert. Die dreiteilige Projektion handelt vom Leben in Japan nach dem 11. März 2011 und dem Unglück von Fukushima, wobei es den Künstlern, wie sie sagen, „nicht um die sichtbaren Schäden des Erdbebens und des Tsunamis geht, und auch nicht um die Wiederaufbau- und Cheer-up-Aktivitäten, sondern um die unscheinbaren und unsichtbaren Veränderungen“.

Dazu haben Fischer/el Sani ganz unterschiedliche Leute befragt. Sieht man sie nun als Talking Heads auf der Leinwand agieren, denkt man: Es ist ja in Ordnung, dass sich Kunst nicht mehr allein nur im Objekt realisiert, sondern in der Recherche, der Handlungsanweisung, in Kommunikationsprozessen ganz allgemein, aber sollten die dann nicht ganz spezifisch sein? Und nicht ausschauen wie die Abendnachrichten?

Man steht also auf und schaut sich Wendelien van Oldenborghs „La Javanaise“ an, eine Videostudie über Kolonialismus und Globalisierung anhand des Schicksals eines niederländischen Batikstoffes in Afrika. Kommt man dann wieder zurück zu Fischer/el Sani sieht man plötzlich, glücklicherweise, ganz andere Bilder, die lange Einstellung auf Mütter, die sich in einem Spielzimmer mit ihren Kindern beschäftigen, miteinander reden, vor sich hinträumen, ein buntes Gewoge aus größeren und kleineren Köpfen – und da ist sie dann auch, die spezifische Art der Kunst, zu argumentieren.

Im Filmprogramm, das im Arsenal läuft, beeindruckt dann am meisten „Dragooned“ von Sandy Amerio. Sie konfrontiert einen zunächst mit einem S/W-US-amerikanischen Wochenschaufilm aus dem Zweiten Weltkrieg zur Operation Dragoon, bei der ein provisorischer Luftlandeverband in Divisionsstärke – die 1. Airborne Task Force – im August 1944 in der Provence abgesetzt wurde. Dann läuft der Film plötzlich rückwärts und in Farbe und ein Voice-Over kommt dazu. Es ist die Stimme eines französischen Exsoldaten, der in den 1970er Jahren geboren wurde und heute mit Gleichgesinnten das Reenactment dieser Landung, dem vergessenen Gegenstück zur Operation Overlord in der Normandie, in Szene setzt.

Schon für ihren Mut, mit diesen rechten Spinnern zusammenzuarbeiten, muss man die Filmemacherin von der Kunsthochschule in Nantes, bewundern. Und noch mehr für das Konzept ihres Films, mit dem Sandy Amerio wirklich eine spannende, nachvollziehbare Idee entwickelt hat, mediale Routinen, Muster und Erwartungshaltungen zu zerlegen.

■ „Waves vs. Particles“, Silent Green Kulturquartier (ehem. Krematorium Wedding), bis 17. 2. tgl. 11 18 Uhr

Kurzfilme im Berlinale-Programm

Hélio Oiticica im Hamburger Bahnhof: bis 24. 2., 11–18 Uhr