: Stade strahlt!
Verträumt schaut Achim Breuer in die Landschaft. Entspannt inhaliert er die frische Meeresluft, die ihm ins Gesicht bläst. Die ersten Sonnenstrahlen brechen den Frühnebel. Es ist noch kühl heute morgen. Schnell verschwimmt die blühende Landschaft vor seinen Augen, er schaut ins Leere. Neben ihm steht ein großes, verrostetes Warnschild, dahinter die Reste von Stacheldraht. Schon als Kind hat er vor diesem Schild gestanden und durch den Stacheldraht gespäht. Als Schülerzeitungsredakteur hat er über das Gelände eine Reportage geschrieben, als Student hat er hier Plakate hochgehalten und Polizisten beschimpft. [...] Vor ihm auf dem überdimensionalen Schild steht in großen, verblichenen Buchstaben: „Achtung Lebensgefahr!“ Darunter jenes Zeichen, das beinahe die Menschheit ausgelöscht hätte. „Heute kann hier von Lebensgefahr keine Rede mehr sein. Vielmehr von Lebensfreude!“
Das einst hermetisch abgeriegelte Atomkraftwerk Stade ist heute der strahlendste Ort der Gegend. Täglich stürmen hier hunderte Kinder mit einem frohem Gesicht durch den weltweit ersten Kindergarten, der in ein stillgelegtes Kernkraftwerk gebaut wurde. 1972 wurde es als zweites deutsches Kernkraftwerk in Betrieb genommen. 2003 wurde es wieder abgeschaltet, nun, 2018, ist es ein Kindergarten. Einen Moment noch genießt Achim die Morgenstimmung, bevor er mit mir auf das Atomkraftwerk zuschlendert. In bunten Farben ragen die farbig gestrichenen Türme in die Höhe, die so gar nicht aussehen, als ob in ihnen jemals Kernfusionen stattgefunden hätten. Achim erzählt, dass hier früher ein drei Meter hoher Stacheldrahtzaun mit Selbstschussanlagen stand. Heute ist hier ein kleiner Holzzaun. Drachen, Fische, Mainzelmännchen und fröhlich spielende Kinder haben die Jungen und Mädchen auf den Zaun gepinselt. [...]
Im ehemaligen Reaktorraum wimmelt es nur so von Kindern, Spielsachen und strahlenden Gesichtern. Alles ist in Aufruhr. „So eine Rennstrecke für Bobbycars habe ich mir früher auch schon immer gewünscht!“, erzählt mir Bodo, der Betreuer, der die Bobbycarbahn entworfen hat. Hier werden also die nächsten „Formel Öko-Fahrer“ trainiert, die später mit ihren Solarschlitten über den Nürburgring sausen werden! Die Bobbycarrennbahn ist der Traum eines jeden Kindes. [...] Im etwas ruhigeren Teil gegenüber ist die „Spielewelt“. Legoritter kämpfen hier um die goldene Burg und Playmobilpolizisten liefern sich wilde Verfolgungsjagden mit Verbrechern. [...]
Im ehemaligen Überwachungsraum liegt heute der IT Bereich des Kindergartens. An 50 hochmodernen PCs mit Lernprogrammen und Internetzugang sammeln die Kinder ihre ersten Erfahrungen im Umgang mit Computern. Achim führt mich weiter. Wir gehen durch die Vorgebäude. [...] „Etwas ganz besonderes ist unsere Kletterwand!“, meint Achim. „An der äußeren Reaktorwand haben wir Haltegriffe befestigt und mit eingelassenen Sicherungsseilen können die Kinder, sich gegenseitig sichernd, das AKW erklimmen.“ Das soll das Vertrauen zwischen den Kindern stärken. „Wir brauchen heute eine Gesellschaft, die nicht aus lauter Egoisten besteht. Bei uns lernen die Kinder schon früh, was Vertrauen, Teamwork und Zusammenhalt bedeuten!“ Auch die Verbindung zur Umwelt ist Achim wichtig. Auf dem Dach des Reaktors blinkt eine Solaranlage, es gibt Erkundungsausflüge ins Watt, im großen Garten lernen die Kinder die verschiedenen Pflanzen kennen. „In unserer hochtechnisierten und rasanten Epoche muss man gerade auf diese Kleinigkeiten achten, die das Leben ausmachen“, sagt Achim.
Sein Konzept scheint aufzugehen. Die 400 Kindergartenplätze sind ausgebucht. Das hat mehrere Gründe. Erstens bietet der Kindergarten, auch KKW (KinderKraftWerk) genannt, vielfältige Freizeitmöglichkeiten, ist hochmodern und bei den Kindern sehr beliebt. Zweitens handelt es sich um einen „Ganztagskindergarten“. „So können Frauen Beruf und Familie endlich vereinbaren“, meint Angelika, die Elternvorsitzende des Kindergartens. „Das ist ja leider immer noch nicht selbstverständlich.“ Außerdem liegt der Kindergarten außerhalb der Stadt mitten im Grünen. Hier herrschen weder Straßenlärm noch Smog. Über die Bahngleise, über die früher der Castor rollte, fährt nun jeden Morgen ein Sonderzug zum Kindergarten.
Im Landkreis Stade hat der neue Kindergarten zu einem regelrechten Babyboom geführt. Mittlerweile ist die Geburtenrate hier höher als in jedem anderen Landkreis Deutschlands. 35 KindergärtnerInnen haben hier einen Arbeitsplatz gefunden. Lange dauerte es nach diesen Meldungen natürlich nicht, bis es einen Ansturm der Presse auf das KKW gab. Fernsehteams, Journalisten, Fotografen: sie alle wollten über das „Wunder von Stade“ berichten. „Da war natürlich auch die Politik schnell hier, um sich in diesem Glanz zu rühmen“, meint Achim. „Bundestagsabgeordnete, Bürgermeister, Minister, schließlich kam sogar der Bundeskanzler!“ Er sagt das mit einem zynischen Lächeln.
Wir stehen wieder draußen. Der Seewind fährt Achim ins Gesicht. Er wirkt irgendwie älter als vorhin. Seine Stirn liegt in Falten. Seit letztem Jahr ist er Träger des Bundesverdienstkreuzes. Eigentlich hat er nur das gemacht, was die Politiker gefordert haben: er hat [...] seine eigenen Ärmel hochgekrempelt, nicht die anderer. Nach der Stilllegung des Kraftwerks und der Entsorgung der Abfälle kaufte er es für einen Euro vom ehemaligen Betreiber E.ON, der es eigentlich abreißen wollte. Zusammen mit der von ihm gegründeten Bürgerinitiative „KKW“ sammelte er Geld und sie begannen mit dem Umbau zum Kindergarten. „Natürlich mussten wir selbst Hand anlegen. Jeder konnte etwas anderes und so hat das ganz prima geklappt!“ Achim ist berühmt geworden. Doch es ist nicht sein Ding, auf Empfängen Hände zu schütteln oder in Talkshows sein Konzept zu erklären. Er steht nicht gern in der Öffentlichkeit. [...] Keine Frage, hier in Stade steht ein Stück „Deutsche Zukunft“. Wo früher Spaltung betrieben wurden, werden heute Verbindungen geübt. Im AKW spielen jetzt Kinder zwischen Sonnenblumen. Auf dem Dach des Atomkraftwerks glänzen Solarzellen. Es ist wie ein Traum. Ein Traum, aus dem man am liebsten gar nicht mehr aufwachen möchte!
Fotohinweis: Friedemann Bieber (15) ist Vielschreiber: Er leitet die Schülerzeitung „Schillerglocke“ in Münster. Vielleicht wird er aber auch Politiker. „Ich finde beides spannend“