: Abschied von der Zehn
Im Kunstturnen ist ein neues Wertungssystem geplant, das das Risiko eindämmen und durchsichtiger sein soll. Bei der heute in Melbourne beginnenden Weltmeisterschaft allerdings gilt es noch nicht
AUS MELBOURNE JÜRGEN ROOS
Kann ein Weltverbandspräsident Sonnenkönig und Revolutionär in einer Person sein? Er kann es zumindest versuchen. Bruno Grandi, Italiener auf dem Thron der weltweiten Turnerschaft, hat die „große Revolution“ schon vor Monaten angekündigt – nächste Woche soll sie bei der am Dienstag beginnenden Turn-WM noch einmal beraten und endgültig verabschiedet werden. Mal abgesehen von der lustigen Tatsache, dass Revolutionen bei den Turnern beraten und verabschiedet werden: Was Grandi und das technische Komitee des Weltverbandes FIG vorhaben, könnte das Kunstturnen tatsächlich verändern. In welche Richtung? Das ist – wie bei allen Revolutionen – allerdings die Frage.
Es geht um das Bewertungssystem, das von jeher kompliziert ist und jetzt vereinfacht und vor allem gerechter werden soll. Kurz und schmerzlos ausgedrückt: Die 10,0, beim Kunstturnen bisher Traumnote und Maß aller Dinge, gibt es nicht mehr. An ihre Stelle treten eine getrennte Schwierigkeits- und Ausführungsnote, die unabhängig voneinander festgelegt werden und zusammengerechnet über die 10,0 hinausgehen können. Zwei Kampfrichter bestimmen den Schwierigkeitswert, indem sie die zehn höchstwertigen Teile der Übung zusammenzählen. Sechs weitere Kampfrichter bewerten die Ausführung mit einer Note von 0 bis 10 (die höchste und niedrigste Wertung wird gestrichen). Ein System, das sich beim Wasserspringen bewährt hat – und mit dem sogar die Zuschauer einigermaßen zurechtkommen.
Die „Revolution“, das sollte nicht verschwiegen werden, kommt eigentlich von noch weiter oben: Nach den skandalösen Umständen beim Reckfinale der Olympischen Spiele 2004 in Athen hatte sich IOC-Präsident Jacques Rogge persönlich an Grandi gewandt und gedroht, dass Turn-Wettbewerbe aus dem olympischen Programm gestrichen werden könnten, sollte die Bewertung nicht durchsichtiger werden. Dass der Italiener einen großen Teil der angestrebten Veränderungen nun auf seine eigene Fahne schreibt, ist wohl Sonnenkönigsstil. Dass ihn das eigene technische Komitee in einigen Punkten korrigiert hat, kommentiert er gönnerhaft: „Ich bin nicht Ratzinger …“
Ob Papst oder Sonnenkönig, Bruno Grandi glaubt jedenfalls, jetzt schon vorhersehen zu können, was die Änderungen bringen. „Die Revolution betrifft nicht die Sportart, sondern die Kampfrichter, die von nun an hervorragende Fachleute sein müssen“, sagt er. Die neuen Kriterien führten dazu, dass nicht Risiko, sondern perfekte Ausführung belohnt werden. „Der Kunstturner wird wieder Artist, nicht Akrobat sein“, sagt der FIG-Präsident.
Genau das bezweifeln führende Fachleute, zu denen der deutsche Chef-Bundestrainer Andreas Hirsch und Eberhard Gienger, Reck-Weltmeister 1974 und Vizepräsident des Deutschen Turnerbundes (DTB), gehören. Vor allem die addierte Schwierigkeitsnote ist umstritten. Gienger fürchtet nicht nur ein weiteres Spezialistentum („Man wird schon beim Einmarsch erkennen, wer die Boden-, die Ringe- und die Reckturner sind“), sondern auch eine neue Monotonie in den Übungen. Noch schwerer wiegt freilich die Sorge um die Gesundheit der Athleten. „Die Verletzungsgefahr steigt“, sagt Gienger, „nicht so sehr im Wettkampf – aber im Training werden die Athleten auf Teufel komm raus auf Schwierigkeit gehen.“ Beim DTB ist man in diesem Punkt sensibel, denn der Cottbuser Turner Ronny Ziesmer sitzt seit einem Trainingsunfall im Sommer 2004 im Rollstuhl.
„Alles“, sagt Gienger, „hängt davon ab, ob die Ausführungskampfrichter gnadenlos auch die kleinsten Schlampereien abziehen, sodass sich das Risiko nicht lohnt.“ Um dieses Ziel zu erreichen, müssten die Kampfrichter ihrerseits hart kontrolliert werden. Gienger, selbst jahrelang internationaler Kampfrichter, weiß, wovon er spricht. Bei den Turnwertungen der Vergangenheit ging vieles nicht mit rechten Dingen zu.
Der Zeitplan sieht nun so aus: Die Verabschiedung dieser Tage in Melbourne vorausgesetzt, werden die neuen Maßstäbe im Frühjahr 2006 zuerst beim Weltcup in Cottbus, dann bei den Europameisterschaften im griechischen Volos angelegt. Und nicht nur die Turnwelt wird mit Argusaugen auf die Ergebnisse achten. „Wenn sich das neue System nicht bewährt“, sagt Eberhard Gienger, „kommt der Herr Grandi erst recht in Erklärungsnot.“ Dann droht dem Sonnenkönig an der Weltverbandsspitze vermutlich eine richtige Revolution.