Montagsinterview Flüchtlingsratssprecherin Traudl Vorbrodt: "Ich hab es nicht mehr ertragen"
Traudl Vorbrodt (72) hat jahrelang Asylsuchende beraten. Parallel saß sie seit 1990 in der Berliner Härtefallkommission. Jetzt zieht sich die Sprecherin des Berliner Flüchtlingsrates zurück - auch wenn ihr das nicht leicht fällt.
taz: Frau Vorbrodt, kaum jemand hat länger in Berlin Flüchtlingsarbeit geleistet als Sie, allein 20 Jahre saßen Sie in der Härtefallkommission - jetzt hören Sie auf. Allerdings haben Sie Ihren Abschied schon öfter angekündigt …
Traudl Vorbrodt: Stimmt nicht! Nur einmal.
Sie sind nach der Abschiedsfeier schnurstracks zurück an den Schreibtisch. Warum ist es Ihnen diesmal ernst?
Gertrud Maria Anna Cäcilie Thekla Vorbrodt, von allen Traudl genannt, wird am 20. April 1938 in Pfändhausen bei Schweinfurt geboren. Sie wächst in einem katholischen Elternhaus auf. In den 60ern zieht die gelernte Krankenschwester nach Berlin. Sie arbeitet in der Arztpraxis ihres Mannes, wechselt 1998 in die Sozialarbeit.
Vorbrodt engagiert sich bei der katholischen Friedensbewegung Pax Christi und kommt darüber zur Flüchtlingsarbeit. Sie gehört 1990 zu den Gründungsmitgliedern der Härtefallkommission und wird dieser 20 Jahre lang angehören - ehrenamtlich. Lange Jahre war sie Sprecherin des Berliner Flüchtlingsrates. 2009 erhält sie für ihre Arbeit das Bundesverdienstkreuz. Anfang 2011 verlässt Vorbrodt die Härtefallkommission. Traudl Vorbrodt hat fünf Kinder und acht Enkelkinder.
In der Härtefallkommission wird über ein humanitäres Aufenthaltsrecht für abschiebebedrohte Flüchtlinge beraten. Die sieben zivilgesellschaftlichen Vertreter erläutern zu den einzelnen Schicksalen besondere Härten, am Ende entscheidet der Innensenator - in zwei Dritteln für einen Aufenthalt.
Am Dienstag wird bundesweit ein Aktionstag gegen institutionellen Rassismus begangen. Berliner Initiativen protestieren ab 17 Uhr am Kreuzberger Heinrichplatz gegen die "Lagerunterbringung" von Flüchtlingen.
Weil es höchste Zeit ist, jungen Leuten und Ideen Platz zu machen. Und weil ich lebensälter geworden bin - nicht nur biologisch, auch seelisch wird die Haut dünner. Ich hab die Arbeit einfach nicht mehr ertragen. Ich konnte mir nicht mehr die schweren Schicksale der Leute anhören und sagen: Tut mir leid, ist nichts für die Härtefallkommission. Auf Wiedersehen, gehen Sie zurück. Oder mich monatelang für ein Aufenthaltsrecht abkämpfen, und dann lehnt die oberste Landesbehörde ab. Und das darf ich dann den Schutzsuchenden mitteilen.
Vielen Flüchtlingen haben Sie geholfen.
Trotzdem kam zunehmend das Gefühl: Vielleicht hab ich was vergessen vorzutragen? Oder ich habs nicht überzeugend darlegen können, damit es die Behörde glaubt. Vielleicht war schon zu viel Routine drin, so dass meine Gesprächspartner abgegessen waren? Ich bin nachts aufgewacht und hab überlegt: Was hast du beigetragen, dass der oder die jetzt abgeschoben wird? Ich konnte mich nicht mehr lösen. Es waren keine Fälle mehr, ich war zu dicht dran an den Leuten.
Wie haben Sie diese Distanz in den Jahren zuvor gewahrt?
Weiß ich nicht, es ging eben halbwegs. Ich konnte abschalten, nach einer Beratung relativ problemlos ins Theater gehen. Aber in den letzten zwei, drei Jahren kam schleichend ein schlechtes Gewissen. Wie kannst du jetzt in den Urlaub fahren, während die Leute in Abschiebehaft sitzen? Mit diesen Zweifeln wirst du keinem mehr gerecht.
Aber Sie haben sich doch engagiert, jahrelang - andere tun das nicht.
Das habe ich mir auch eingeredet, bis es nicht mehr klappte. Hab mir gesagt: Du engagierst dich ja - zeitmäßig, emotional, finanziell. Aber das geht an der Sache vorbei: Nämlich, dass hier über ein Menschenleben fremdentschieden wird. Davon kann ich mich nicht losmachen.
Sie haben sich persönlich verantwortlich gefühlt?
Das ist wie ein seelischer Schaden. Oder wie man heute so schön sagen würde: Burn-out.
In der Härtefallkommission haben Sie mit entschieden, welcher Flüchtling dort angehört wird für eine letzte Chance auf ein Aufenthaltsrecht - und wer nicht. Wie ist das, über andere Menschen zu bestimmen?
Eine maßlose Belastung. Sitzen Sie mal hier im Raum und hören sich eine Stunde lang diese tragischen Schicksale an. Und sagen Sie dann, mit deutschem Pass und dickem Portmonee: "Ist nischt, ich kann nichts machen, keine Chance." Wissen Sie, wie sich das anfühlt?
Ich kanns mir vorstellen.
Schlecht, ganz schlecht.
Was sind Ihre Kriterien, sich nicht für einen Flüchtling einzusetzen?
Wenn Leute hier auf Dauer bleiben wollen, aber sich nicht eigenverantwortlich organisieren. Eben nischt machen. Das sind meist junge Männer. Ich ärgere mich wie sonstewas, wenn so ein junger Mensch kommt, seit zehn Jahren hier ist und sagt, er habe noch nichts gemacht, weil er ja nicht arbeiten dürfe. Da krieg ich Grieben.
Was sagen Sie dem?
Ich werde richtig sauer und pädagogisch. Man kann in Berlin für ganz wenig Geld Sprach- und Bildungsprogramme machen, in Museen und Bibliotheken gehen. Das sage ich dem Betroffenen direkt: "Alles nachvollziehbar, was Sie mir erzählen, aber ich kann ihnen nicht helfen, wenn Sie selbst nichts beitragen!"
Vielen Flüchtlingen haben Sie einen Aufenthaltstitel beschafft. Können Sie die Fälle noch zählen?
Über die Zeit waren das bestimmt ein paar hundert.
Macht so was stolz?
Es gibt zumindest das Gefühl, etwas in dieser Gesellschaft erreichen zu können. Vielen Flüchtlingen hat die verhinderte Abschiebung das Leben gerettet.
Wie sehr haben Sie persönlich die Berliner Flüchtlingspolitik verändert?
Ich habe beharrlich darauf hingewiesen, dass die bestehenden Ausländergesetze Einzelfällen nicht gerecht werden. Das war aber nicht nur ich. Zehn Jahre haben wir für die Härtefallkommission gekämpft, für dieses Gnadenrecht. Oder gegen die Abschiebehaft, die es ja leider Gottes immer noch gibt. Und wie lange haben wir darauf gedrungen, dass Flüchtlinge leichter in eigene Wohnungen kommen und sich nicht mehr nur von Sachkosten ernähren müssen. Das sind alles kleine Dinge, aber die sind wesentlich für eine Lebensqualität.
Hat sich der Einsatz gelohnt?
Vieles hat sich zum Positiven gewandelt. Früher durften Flüchtlingskinder nicht zur Schule gehen, heute gibts eine Schulpflicht. Wir haben für Altfallregelungen gekämpft, jetzt gibt es Bleiberecht. Und in der Bevölkerung hat sich die Stimmung gegenüber Flüchtlingen geändert. Viele sind sensibler geworden, weniger egoistisch. Obwohl man nie vergessen darf, wie wenige Flüchtlinge wir in Berlin haben.
Zuletzt sind die Flüchtlingszahlen in Berlin stetig gestiegen …
Das ist aber doch alles nichts im Vergleich zu den Neunzigern, wo wir Zeltstädte in der Stadt hatten. Die komplette Deutschlandhalle war voll mit Flüchtlingen! Ich weiß nicht, wie die Bevölkerung reagieren würde, wenn plötzlich wie in Lampedusa 5.000 Flüchtlinge nach Berlin kommen würden. Aber trotzdem: Gerade die jungen Leute sind heute mehr ansprechbar, es gibt eine breite Unterstützerszene in Berlin.
Vor zwei Jahren haben Sie für Ihre Arbeit das Bundesverdienstkreuz bekommen. Ihre Dankesrede war eigen: Sie bezeichneten die Verleihung als "einfach unangenehm".
Das wars ja auch. Aber ich hab den Preis angenommen, weil ich Mut machen wollte. Weil ich zeigen wollte, dass es sich lohnt, sich auch für Unerwünschte einzusetzen, für Menschen, die Deutschland nicht erträgt. Und das im Interesse des deutschen Volkes, wie es so schön hieß.
Teile der Unterstützerszene haben Sie damals kritisiert: Wie kann man eine Auszeichnung von einem Staat annehmen, der so mit Flüchtlingen umgeht?
Das hat mich enttäuscht und es enttäuscht mich auch heute noch hin und wieder. Weil ich dachte, die Leute, mit denen ich so lange zusammengearbeitet habe, kennen mich doch. Dass die meckerten, war ein Schnitt. Denn ich bin doch der Meinung, dass wir in einem relativ gut funktionierenden Staat leben. Es stimmt vieles nicht. Aber selbst ich als alte Großmutter kann mich einmischen, ohne dass mir irgendwas passiert.
Also Allianz mit den Herrschenden statt Konfrontation?
Dialog! Wenn ich etwas ändern will, muss ich mit denen reden, die etwas verändern können. Und das sind die Politiker da oben, die die Gesetze machen. Da kann ich nicht hingehen und sagen: Du vom Schweinesystem, ich verlange dies und das. Dann werde ich nicht mehr gehört und würde ja auch ausgrenzen.
In den Siebzigern waren Sie Teil der außerparlamentarischen Opposition, standen neben Rudi Dutschke auf der Straße: Haben Sie die Seiten gewechselt?
Das sind doch zwei ganz andere Ebenen. Die APO-Zeit, das Dagegensein, das war der große Rahmen. Bei der Härtefallkommission gehts um individuelle Einzelschicksale. Da ist Gesprächsbereitschaft unabdingbar.
Dann bliebe es aber trotzdem die richtige Arbeit im falschen System.
Eine bessere Alternative hab ich einfach nicht. Vor 50 Jahren hätte ich ja vielleicht noch gesagt: Lasst uns einen Bauernhof besetzen und dort mit Abschiebebedrohten alternativ leben. Aber das kann ich heute nicht mehr.
Sie sind APO-Rebellin, gläubige Katholikin und stammen aus einer sozial stark engagierten Familie. Was hat Ihr Engagement am meisten beeinflusst?
Wahrscheinlich ist es ein Konglomerat all dessen. Ich kann einfach nicht stillhalten, wenn ich das Gefühl habe, es werden bestimmten Menschen Rechte vorenthalten, grundlegende Rechte. Es darf einfach keinen Unterschied geben in der Anerkennung des Menschseins. Und da ich Staatsbürgerin bin des Landes, das Gesetze erlassen hat, die das nicht immer respektieren, muss ich mich einmischen.
Rührt daher Ihr Lebensmotto: "Nimm nichts einfach so hin"?
Das kommt von meiner Großmutter. Ich hatte als Kind Respekt vor Lehrern und hohen Persönlichkeiten. Da hat sie immer gesagt: "Stell dir doch den armen Tor / mal nackich auf dem Töpfchen vor." Das hat geholfen.
Interessant.
Das war damals die kindliche Ebene, klar. Aber es gilt doch: Wir alle haben irgendwo die gleichen Wünsche, Bedürfnisse, Hoffnungen, auch wenn sie jeder etwas anders entwickelt. Niemand hat das Recht zu sagen, mit dir rede ich nicht, du stehst unter mir. Ich glaube fest an diese Gleichwertigkeit. Weder Sie noch ich sind aus eigener Entscheidung irgendwo freiwillig geboren.
Sie haben zudem noch den Krieg selbst erlebt.
Das war sicher prägend. Ich weiß noch, was es heißt, wenn Bomben über einem fallen. Ich weiß, was es heißt, im Luftschutzkeller zu sitzen und Angst vor Soldaten zu haben. Ich bin in einem Ort groß geworden, da haben Zwangsarbeiter auf dem Feld gearbeitet. Aber ich hatte eine tolle Familie, die diese armen Menschen ins Haus geholt und sich um sie gekümmert hat.
Und da wollen Sie es Ihren Eltern gleichtun?
Na ja, ich bin auch unheimlich neugierig. Ich will wissen, was ein anderer denkt und gerne möchte, welche Hoffnungen er hat. Ich bewundere diese Leute, die einfach losziehen mit nischt außer einer Tasche und sagen: Okay, ich guck mal, ob ich in Deutschland einen Aufenthalt kriege. Das würde ich nie schaffen. Ich plane ja schon ewig, wenn ich nur nach Frankreich in den Urlaub fahre.
Diese Neugierde könnten Sie auch weniger aufwendig stillen.
Das ist ja nicht alles nur reinste Aufopferung. Die Arbeit gibt mir doch auch viel zurück. Viel mehr, als ich einsetze.
Das klang vorhin noch anders.
Ja, weil ich nach all den Jahren nicht mehr kann. Gleichzeitig aber habe ich unglaublich viel Erfahrung, Menschlichkeit und Zuneigung erhalten. Ich habe überall Freunde, auch wenn einige schon längst wieder in Äthiopien, Togo oder bei den Tamilen sind. Das gibt mir das Gefühl, dass ich wohl nie einsam werde. Dass ich überall Menschen mit einer ganz anderen Kindheit und einer ganz anderen Sprache habe, zu denen ich jederzeit gehen könnte, wenn ich traurig bin oder Hilfe brauche, das empfinde ich als unheimlich toll.
Haben Sie nach all den Jahren eigentlich noch Utopien?
Es gab Wochen, da hatte ich keine mehr. Da dachte ich, was soll der Quatsch, bringt alles nischt. So langsam entwickele ich sie wieder. Ich habe immer noch die Utopie, dass es mal keine Nationalgrenzen mehr gibt. Dass wir uns alle, bei aller Unterschiedlichkeit, gegenseitig so respektieren, dass niemand mehr erschlagen wird. Dass wir uns Rückzugsorte zugestehen, aber dennoch füreinander öffnen.
Klingt nicht nach kurzfristiger Umsetzung.
Ein paar weniger Grenzen gibt es heute doch. Ist doch schon was.
Haben Sie auch die Vision, dass alle Flüchtlinge einmal in Deutschland bleiben dürfen?
Nein. Vielleicht wird es mal die Möglichkeit geben, dass eine offenere Wanderbewegung durch Europa möglich ist. Dass man sich das Land, in dem man leben möchte, selbst aussuchen kann. Ich weiß, vernünftige Leute sagen dann, ja aber das kostet und die sozialen Folgen und was weiß ich. Aber viele der Flüchtlinge wollen gar nicht für immer in Deutschland bleiben, sondern nur eine Zeitlang zur Ruhe kommen und dann weiterziehen. Auf der anderen Seite habe ich die Hoffnung, dass sich die Herkunftsländer so ändern, dass die Leute nicht mehr wegwollen.
Machen Ihnen da die Umwälzungen in Nordafrika und den arabischen Staaten Mut?
Man muss ja nicht nur dorthin gucken. Aber ich freue mich über jeden Fortschritt dort.
Was machen Sie im Ruhestand?
Erst mal muss ich zur Ruhe kommen. Wieder Abstand finden von diesem Zwanghaften: Ich muss noch diesen Brief schreiben oder diesen Text nachlesen. Dann werde ich entrümpeln, was sich alles zuhause angesammelt hat. Und ein bisschen arbeite ich ja auch noch, in der Jugendhilfe.
Moment, wollten Sie nicht aufhören?
Das geht doch nicht von heute auf morgen. Ich kenne ja noch die ganzen Leute, und als Neugierige, die ich nun mal bin, höre ich auch weiter zu. Aber ich bin dabei, mich zurückzuziehen. Ich muss jetzt einsehen, dass es nicht mehr nur auf mich ankommt.
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