: Unterschiede machen Schule
LERNEN Behinderte und nichtbehinderte Kinder sollen in Zukunft gemeinsam unterrichtet werden. Wie das gehen kann, sieht man in der Heinrich-Zille-Grundschule in Kreuzberg: Dort wird Inklusion längst umgesetzt. Einblicke in einen Alltag, in dem die Abweichung von der Norm zur Normalität geworden ist
■ Unter der Bezeichnung LES werden die Förderschwerpunkte „Lernen“, „emotionale und soziale Entwicklung“ und „Sprache“ zusammengefasst. Kinder mit Defiziten haben Anrecht auf sonderpädagogische Förderung. Die Diagnosen werden in Berlin nicht zentral, sondern von den Bezirken erstellt. Im Leitfaden dazu werden die drei Förderschwerpunkte so definiert:
■ Lernen: Sonderpädagogischer Förderbedarf bei Lücken „zwischen den Handlungs- und Lernmöglichkeiten eines Kindes und den Anforderungen der Schule“. Legastheniker etwa fallen in diesen Förderschwerpunkt, aber auch Kinder, die in mehreren wichtigen Fächern nicht mitkommen. Zur Diagnose gehörte bisher auch ein Intelligenztest. Schüler mit Förderbedarf machen 35 Prozent der sonderpädagogisch geförderten SchülerInnen in Berlin aus.
■ Emotionale und soziale Entwicklung: Dahinter verbirgt sich der alte Begriff der „Verhaltensstörung“. Hier bleibt der Leitfaden am ungenauesten: In diesen Förderschwerpunkt fallen Kinder, deren Verhalten von „zeit- und kulturspezifischen Erwartungsnormen“ so stark abweicht, dass Probleme bei ihrer „Entwicklungs-, Lern- und Arbeitsfähigkeit“ nicht ohne besondere Hilfe überwunden werden können. Auch hier wird ein Intelligenztest empfohlen. Kinder und Jugendliche mit dieser Diagnose machen 13 Prozent der sonderpädagogisch geförderten Schüler aus.
■ Sprache: Zum Förderschwerpunkt Sprache gehören organische und entwicklungsbedingte Sprachstörungen ebenso wie etwa Stottern. Entscheidend ist die Beeinträchtigung der „kommunikativen Kompetenz“ eines Kindes. Sprachentwicklungsgestörte Schüler machen 20 Prozent aus. (sug)
VON SUSANNE MEMARNIA UND ALKE WIERTH
Trübes Winterlicht scheint durch die Fenster, doch im Klassenzimmer der Kreuzberger Heinrich-Zille-Schule ist es warm und hell. Es ist neun Uhr morgens, die Erst- bis Drittklässler arbeiten jeder für sich. Ab und zu unterbricht Geflüster die Stille. „Schreibt man ‚Schneeball‘ mit Doppel-e?“, fragt ein Mädchen seine Tischnachbarin, die nickt. Hilmi*, ein zarter Junge mit mehreren Behinderungen, bewegt seinen Stift mühsam mit ruckartigen Bewegungen über das Papier. Aber er grinst über beide Ohren, weil er wie die anderen „schreiben“ darf. Nur der sechs Jahre alte Onur scheint nicht zu wissen, was er tun soll. Auf seinem Platz vorne am Fenster zappelt er unruhig hin und her. Hedwig Matt, die Sonderpädagogin der Klasse, setzt sich neben ihn und zeigt ihm eine Aufgabe im Heft. „Nimm die, das andere ist zu schwer.“
Die Heinrich-Zille-Grundschule in Kreuzberg unterrichtet seit über 20 Jahren Kinder mit und ohne Behinderung – seit Rot-Grün unter Walter Momper (SPD) Anfang der 1990er Jahre die Inklusion zum politischen Ziel erklärt hat. Inklusion, das bedeutet, Kinder in all ihrer Unterschiedlichkeit gemeinsam lernen zu lassen. Damals war die Skepsis gegenüber diesem Unterricht noch groß. Heute macht ihn die vor fünf Jahren in Kraft getretene „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ zur Pflicht.
Bereits Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) hatte im Mai 2011 ein Inklusionskonzept vorgestellt, das nicht zuletzt deshalb auf Kritik bei Schulen und Eltern stieß, weil dafür nicht mehr Geld fließen sollte. Zöllners Nachfolgerin und Parteigenossin Sandra Scheeres hat dies teilweise revidiert – sie will den Schulen 300 SonderpädagogInnen mehr zugestehen.
Gegen die Stigmatisierung
An der entscheidenden Neuerung hat Scheeres jedoch nichts geändert: Abgeschafft wird künftig, dass Kinder mit Schwierigkeiten in den Bereichen Lernen, soziale und emotionale Entwicklung oder Sprache (LES, siehe Kasten) von externen Gutachtern diagnostiziert werden. Nach dieser Diagnose wurde bislang auch entschieden, wie viele individuelle Förderstunden die Kinder bekommen. Stattdessen sollen Schulen nun pauschal zusätzliche Stunden für sonderpädagogische Förderung bekommen – und zwar je nachdem, wie viele Kinder an der Schule abhängig von Hartz IV sind, da Lern-, Sprach- und Verhaltensauffälligkeiten häufig auch soziale Ursachen haben.
Der dahintersteckende Gedanke: Den Kindern, die bislang den LES-Stempel aufgedrückt bekamen, bleibt in Zukunft eine Stigmatisierung erspart. Defizite sollen als Eigenarten verstanden werden, Abweichungen von der Norm als Normalität. Die Schulen können freier entscheiden, wie und wann sie sonderpädagogische Förderung einsetzen. Doch was bedeutet dieser Plan für die Schulen? Ist er umsetzbar – oder geht er an der Realität im Unterricht vorbei?
Unter den 23 SchülerInnen der Löwenklasse der Heinrich-Zille-Schule gibt es ein Kind mit LES-Diagnose: Murat hat Schwierigkeiten beim Sprechen. Der Einzige mit Förderbedarf in der Klasse ist Murat aber nicht: Hilmi war eine extreme Frühgeburt und ist mit acht Jahren auf dem Entwicklungsstand eines Dreijährigen, erklärt Schulhelferin Heike Mac Coitir. Sie ist eigentlich zuständig für das dritte Förderkind der Klasse, einen autistischen Jungen. „Und dann gibt es Onur, der ist noch gar nicht diagnostiziert“, sagt die Schulhelferin. „Aber er hat sicher einen Förderbedarf.“
Um halb zehn geht Sonderpädagogin Hedwig Matt mit Onur nach vorne zur Tafel. Der zappelige Junge darf die Glocke schlagen und damit die Frühstückspause einläuten. „Onur hat heute ganz prima gearbeitet“, lobt ihn Matt vor der Klasse. Die Kinder packen ihre Brotboxen aus, Matt gibt Hilmi eine Möhre und einen Schäler, „er mag so gern Rohkost“. Onur schnappt sich Hilmis Schäler und bedeckt seine eigene Tischhälfte mit Möhrenraspeln. Geduldig entwindet Matt ihm den Schäler und räumt die Plätze auf. Dann nimmt sie sich Zeit, Onurs Geschichte zu erzählen.
Als der Sechsjährige im Sommer eingeschult wurde, habe er kaum Deutsch gesprochen. „Dabei kam er schon vor gut zwei Jahren mit seinen Eltern aus Bulgarien.“ Er sei weder in der Kita noch beim Sprachtest vor der Einschulung gewesen. „Die Eltern kümmern sich offensichtlich nicht um ihn, er kennt keine Regeln.“ Die Reform bedeutet für ihn: Er wird auch in Zukunft keine LES-Diagnose bekommen. Und bleibt einfach ein schwieriger Junge, der seinen Lehrern viel abverlangt.
Reform als Sparmaßnahme
Bislang ist es so: Obwohl Onur einen gut Teil der Zeit und Energie von Sonderpädagogin Hedwig Matt beansprucht, erhält die Schule für Nichtdiagnostizierte wie ihn kaum Förderstunden. Die 18 Stunden, die Matt und eine Referendarin wöchentlich in der Löwenklasse verbringen, errechnen sich aus je acht Förderstunden für Hilmi und das autistische Kind plus zwei Stunden für Murats Sprachförderung. „Eigentlich ist das viel zu wenig“, sagt Matt. Im Prinzip brauchte man ständig eine Doppelbesetzung, also Lehrer plus Sonderpädagogen – und die jeweils individuellen Schulhelfer. „Aber das ist natürlich viel zu teuer“, sagt die zierliche Frau, die seit 30 Jahren in dem Beruf arbeitet. In den letzten Jahren sei sogar noch gekürzt worden.
Tatsächlich waren Berlins Inklusionsbemühungen der vergangenen Jahre – wie so viele Bildungsreformen – immer auch Sparmaßnahmen. Denn mit der zunehmenden Einschulung von Kindern mit Förderbedarf an Regelschulen und der Schließung spezieller Förderzentren wurde die Zahl der Sonderpädagogen reduziert: von 2004 bis 2009 um mehr als 150 auf 3.300. Und das, obwohl die Zahl förderungsbedürftiger Kinder im selben Zeitraum von 5,9 auf 7,4 Prozent der Gesamtschülerzahl stieg – gerade in den LES-Bereichen. Kinder mit dieser Diagnose machen 70 Prozent der förderbedürftigen SchülerInnen aus.
Inge Hirschmann, die Schulleiterin der Heinrich-Zille-Schule, sitzt in ihrem Büro im Erdgeschoss des alten Backsteingebäudes an der Waldemarstraße. Hirschmann ist Vorsitzende des Grundschulverbands und seit Jahrzehnten Mitglied im Arbeitskreis Gemeinsame Erziehung. Die Umsetzung der UN-Konvention sei „der nächste Schritt zur Demokratisierung der Schulen“, meint sie. Obwohl sie selbst mit im Beirat für die Entwicklung des Inklusionskonzepts saß, hält sie es für „keinen großen Wurf“.
Zwar finden viele SchulleiterInnen die Abschaffung der individuellen LES-Diagnosen richtig. Solche „Etikettierung“ beruhe „auf einer problematischen Definition von Behinderung“, sagt etwa Markus Schega, Leiter der Kreuzberger Nürtingen-Grundschule, die ebenfalls inklusiv arbeitet. Die Kriterien, die den LES-Diagnosen zugrunde liegen, seien schwammig, so Schega: „An einer Schule gilt ein Kind mit bestimmten Verhaltensweisen als förderbedürftig, an einer anderen nicht.“ In einem Berliner Leitfaden heißt es, Förderbedarf zeige sich, wenn die „Handlungs- und Lernmöglichkeiten eines Kindes“ nicht zu den „Anforderungen in der Schule“ passten.
Auch Karin Babbe, Leiterin der inklusiven Erika-Mann-Grundschule in Wedding, hält die Abschaffung der individuellen Diagnose für „den richtigen Weg“. Problematisch sei die im neuen Konzept vorgesehene Pauschalförderung aber dennoch: Damit einher geht nämlich auch eine Deckelung der Förderstunden. Je nach Anzahl der Kinder aus Familien, die Hartz IV beziehen, sollen Grundschulen künftig sonderpädagogische Förderstunden bekommen, maximal jedoch für 5,5 Prozent ihrer SchülerInnen. Bei Oberschulen liegt die Grenze bei 4,5 Prozent. Diesen Anteil an Kindern mit LES-Diagnosen haben viele Schulen in armen Vierteln aber längst überschritten. Eine höhere Förderung? Ist künftig nicht mehr drin.
INGE HIRSCHMANN, SCHULLEITERIN
Mathestunde in der Löwenklasse: Die Referendarin verteilt Zettel mit Textaufgaben, die die Kinder in Partnerarbeit lösen sollen. Hedwig Matt liest Onur eine Aufgabe vor, er soll Schlittschuhfahrer zeichnen, die mit und ohne Hilfe fahren können. „Das war ein Klassenausflug vor zwei Wochen“, erklärt sie. Aus diesem Erlebnis haben die Lehrer verschiedene Aufgaben für alle Niveaus der Klasse erarbeitet.
Eine Drittklässlerin geht zu Hilmi, nimmt ihn an beiden Händen und führt den staksigen Jungen an den Platz neben ihr. „Hilmi wird von allen unterstützt, er macht sich ganz toll und hat schon wahnsinnig aufgeholt“, erklärt Schulhelferin Mac Coitir. Seine Aufgabe ist eine besondere: Mit viel Liebe hat Hedwig Matt aus Fotos des Ausflugs ein Spiel für ihn gebastelt, bei dem er die Schlittschuhe dem jeweiligen Kind zuordnen muss. „Für sein Niveau gibt es gar kein Unterrichtsmaterial“, erklärt die Sozialpädagogin. Das stellt sie in Eigenregie und Heimarbeit her.
Ob für solches Engagement künftig Zeit bleibt oder ihre Schule nach die Reform sogar knapper mit Personal ausgestattet sein wird, ist für Inge Hirschmann noch nicht ausgemacht. Derzeit hat die Heinrich-Zille-Schule mit insgesamt 325 Kindern 40 Förderkinder, davon neun bis zehn Schwerstmehrfachbehinderte, die anderen mit Förderbedarf LES. Für alle 40 Förderkinder hat die Schule vier Vollzeitstellen für Sonderpädagogen. Das könnten im Laufe der nächsten Jahre weniger werden, befürchtet Hirschmann, weil die Schule weniger arme Kinder hat als andere im Kiez.
Dass die Schulen künftig eine Pauschale bekommen und sie nach eigenem Ermessen verteilen können, sehen viele SchulleiterInnen positiv. Für Frank Heldt, der sich im Landeselternausschuss um das Thema Inklusion kümmert, ist gerade das ein Grund, die Neuerungen abzulehnen. „Die Grundlage von Inklusion ist das Individuum“, sagt Heldt. Eine pauschale Zuweisung von Förderstunden aber garantiere keine ausreichende individuelle Förderung mehr für das einzelne Kind.
Inge Hirschmann kann diese Sorge der Eltern gut verstehen. „Es gibt zum Beispiel Schulverweigerer, die immer weglaufen. Da brauchen sie einen Erwachsenen pro Kind. Hier frage ich mich schon, ob die Ressourcen künftig ausreichen.“ Außerdem sollte ihrer Meinung nach mehr Geld und Aufmerksamkeit in die Prävention fließen – damit gar nicht erst so viele Kinder Sprach- oder Lernprobleme oder Verhaltensauffälligkeiten bekommen. „Die meisten Kinder hier“, Hirschmann weist mit dem Kinn in Richtung der Klassenzimmer, „haben doch eine soziale Behinderung. Das Leben macht sie behindert.“
* Namen aller Kinder geändert