Nach der Anti-AKW-Bewegung: Einfach abschalten und fertig?

Der Kampf gegen Atomkraft ist eine schichtenübergreifende Sache. Aber was passiert, wenn dieses Großthema keines mehr ist? Wird es neue, gemeinsame Themen gaben?

Widerstand im Kinderwagen: Doch wogegen kann sie in 30 Jahren demonstrieren? Bild: dpa

Sven Gábor Jánszky hat einen sehr besonderen Utopiegarten. Wenn der 38-Jährige zum "Zukunftskongress" in den Schlosspark Destedt zwischen Braunschweig und Wolfsburg lädt, folgen ihm Innovationsmanager, Abteilungsleiter und Chief Executive Officer von Unternehmen wie Nokia oder Volkswagen ins Palmenhaus hinter den Herrenhäusern in der Lindenallee.

"Deutschlands innovativster Trendforscher", wie sich Jánszky selbst sieht, leitet, wie er erzählt, aus Krisen gern Potenzial ab. "Für die Wirtschaft sind soziale Brüche eine Frage von Zielgruppen", sagt er. Und die Frage des Tages lautet: Ist es denkbar, dass einer ganz spezifischen Zielgruppe demnächst eine stattliche Krise bevorstehen könnte?

25 Jahre ist Tschernobyl her, Fukushima erst ein paar Wochen. Und weil feststeht, dass die Atomenergie in Deutschland ein Auslaufmodell ist, stellt sich auch die Frage: Was wird eigentlich aus der Anti-Atom-Bewegung, wenn die Reaktoren nicht mehr arbeiten? Um welche Themen wird sich die gesellschaftliche Auseinandersetzung um Energie drehen, wenn Fukushima ein Vierteljahrhundert zurückliegt?

Anlässlich des 25. Jahrestags der Atomkatastrophe erscheint die taz am 21. April mit 12 Sonderseiten. Im Internet gibt es die gesamte Ausgabe noch am //www.taz.de/zeitung/e-kiosk/:e-Kiosk.

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Tschernobyl ist die größte Katastrophe der Industriegeschichte und wird es hoffentlich auch bleiben. Doch die Energie der Atomkerne ist etwa eine Million Mal stärker als die des üblichen Feuers und hat deshalb immer wieder unerwartete Schäden angerichtet. Was genau 1986 in Tschernobyl passiert ist und wie viele Menschen vor Ort als Liquidatoren eingesetzt waren, wird nach wie vor in Moskau geheim gehalten. Die Zahl der Liquidatoren liegt zwischen einer halben und einer ganzen Million Menschen.

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Laut der Atomenergieagentur IAEO sind nur 62 Strahlentote nachgewiesen. Nach unabhängigen Berechnungen sind es jedoch mehrere hunderttausend bisher. Dabei sind es nicht nur Krebsfälle, die Tschernobyl-Opfer zu beklagen hatten; die Haupttodesursache sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Diese werden unter anderem auf das radioaktive Cäsium im Herzmuskel zurückgeführt.

"Konflikte werden in 25 Jahren nichts mehr mit Energie zu tun haben", glaubt Jánszky. "Die Großkonzerne müssen nicht mehr zu den regenerativen Energien gezwungen werden. Sie haben ihre Geschäftschancen dort schon erkannt." Geht es nach dem "Trendforscher", könnte die Antwort kaum näher liegen. "Dann werden wir eine zentrale Versorgung mit regenerativen Energien haben. Und die Energiezentralen sind die Solarwüsten in Nordafrika und die Offshore-Windparks auf hoher See." Atomkraftwerke aus - alles gut?

Zentrale Macht oder Macht der Dezentralen

Ein bisschen hat Jánszky ja recht. Die Frage der Zukunft, sie ist, leider, eine jahrhundertealte. Sie lautet: Wer wird künftig die Macht haben, über die entscheidenden Ressourcen zu verfügen?

Jörg Rohwedder, gelernter Sparkassenkaufmann, Jahrgang 1968, hat einen Utopiegarten, der allerdings mit dem von Jánszky nicht das Geringste zu tun hat.

Rohwedder ist Geschäftsführer der Bewegungsstiftung im Öko-Haus in Verden an der Aller. Da sitzt die Stiftung, die politische Aktivistinnen und Aktivisten im ganzen Land mit Geld unterstützt, im Kampf für eine bessere Welt. Er meint: "Natürlich, werden die Ernergiekonzerne versuchen, die zentrale Verfügungsgewalt über die Ressourcen zu erhalten. Doch diese Verfügungsgewalt gehört in die Hände der Menschen, in die Kommunen vor Ort, in die Regionen. Darum wird es in Zukunft gehen - dass über Ressourcenfragen wieder vor Ort mitbestimmt werden kann."

Auch Achim Brunnengräber hält diese Frage für die entscheidende. Der Politikwissenschaftler hat gerade ein Buch veröffentlicht. Das Thema: die Zivilgesellschaft der Zukunft und soziale Bewegungen im globalen Raum. Und das heißt für ihn: im lokalen Raum. "Es wäre eine wunderbare Vision", sagt er, "wenn soziale Bewegungen die Großthemen wieder aus den Augen verlieren könnten, weil die politischen Zentralen einer lokal wie regional angemessenen Politik gewichen sind."

Ende der großen Themen und Erzählungen

Rohwedder und Brunnengräber träumen von einer demokratischen Kultur der Region, von einer Partizipationspolitik in den Orten, von Kommunen, die autark handeln - und von Menschen, die sich nicht mehr in der Bundeshauptstadt beweisen müssen.

Eine Utopie, die vielleicht noch den Kampf gegen Atommüll-Endlager kennen wird, aber nicht mehr den Kampf gegen Atomkraftwerke in Deutschland. Ein Ende der großen Konflikte, der großen Erzählungen.

Und siehe da: In Stuttgart hat der protesterprobte Aktivist Gangolf Stocker jahrelang an der Regionalisierung der Politik gearbeitet. In zäher Kleinarbeit hat er Tausende angesprochen, hat so lange Überzeugungsarbeit geleistet, bis eine Bewegung entstand, die Stadt und Land erschütterte. In Stuttgart wollen sie nun Foren auf dem Marktplatz errichten, wo jeder über politische Themen mitreden soll. Ganz so wie im alten Athen. Das wäre doch mal ein Anfang.

Doch Moment mal: Schon in Athen hatten doch nur jene Männer von Stand eine Stimme. Und können die Kommunen nicht auch zu Orten der Verhinderung werden, in denen ökologische Fragen schnell zu sozialen Fragen werden? Könnte es zum unfreiwilligen Produkt der Anti-Atom-Bewegung werden, dass die neuen Hochspannungsnetze künftig erst recht durch die alten Proletariergegenden führen, durch die Landstriche der Abgehängten? Das mächtige Bürgertum mag zwar stets das Gute wollen, aber doch bitte nicht vor der eigenen Haustür.

"In Stuttgart gehen die Akademiker auf die Straße", haben Sozialwissenschaftler des Wissenschaftszentrums Berlin befunden. Und der Rundumblick zeigt: In Berlin-Schönefeld demonstrieren Anwohner nicht gegen mehr Urlaubsflüge, aber gegen den Lärm über ihren Häusern. Und in Hamburg wurde der jahrzehntelange Kampf für ein gerechteres Schulsystem weggewischt von einer Schar gut organisierter Konservativer, mit Kindern in den Gewinnerbastionen der Gymnasien.

Unter der Apokalypse geht gar nichts

Geraten die Kleinen nicht unter die Räder, wenn sie von der großen Bildfläche verschwinden? Und ist nicht gerade die Macht, auf die Straße zu gehen, eine, die besonders anfällig für soziale Schieflagen ist?

Die Antwort darauf ist jeden Montag am Berliner Alexanderplatz an der Weltzeituhr zu bestaunen, wenn dort gegen Hartz IV und gegen soziale Ausgrenzung demonstriert wird. Da kommen dann immer so eine Handvoll Leute. Die soziale Frage, ein lästiges Abfallprodukt der Zukunft?

Hans-Rudolf Wicker, Jahrgang 1947, ist ein Mann, der das wissen könnte. Der Sozialanthropologe von der Universität Bern hat sich lange mit sozialen Bewegungen beschäftigt. "Die soziale Frage", sagt er, "tritt in den Hintergrund. Den meisten Menschen geht es heute einfach besser als früher." Für Europa gelte: "Wir leben länger und sind gesünder. Da ist wenig Platz für existenzielle Bedrohungsszenarien."

Nein, wer in der differenzierten Gesellschaft der Zukunft noch Massen ansprechen wolle, brauche künftig ganz andere Schreckgespenster: "Herumschwirrende Meteoriten oder die Klimaveränderung - die Themen in 25 Jahren sind apokalyptischen Gehalts. Da geht es um alles." Die soziale Frage hingegen, sagt Wicker, sei nun mal nicht apokalypsetauglich, jedenfalls nicht in Europa.

Aber Wicker ist auch bescheiden. Die Zukunft, sagt er, liegt doch noch immer im Heute. "Auch wenn die Atomkraftwerke in Deutschland stillstehen. Die Endlagerfrage, all die anderen Kernkraftwerke weltweit - das ist Stoff für ein weiteres Jahrhundert."

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