Debatte Flüchtlingshilfe: Todeszone Mittelmeer

Ertrinkenden helfen - diese Selbstverständlichkeit gilt in Europa nicht mehr. Bei der Flüchtlingskatastrophe, nicht bei der Atomkraft, würde eine Ethikkommissiom benötigt.

Sie haben es geschafft: Flüchtlinge im süditalienischen Lampedusa. Bild: dpa

Die Moralphilosophie unterscheidet gemeinhin zwischen negativen und positiven Pflichten. Die ersten sind bindend, die zweiten nicht. Man darf nicht lügen, muss aber nicht überall herumlaufen, um irgendwelche Wahrheiten zu verkünden. Man darf nicht stehlen, schenken muss man nicht.

Diese meist auf Kant zurückgeführte Unterscheidung, so intuitiv einleuchtend sie ist, kann in der Empirie schnell in Zwickmühlen führen, weil ja der Status quo, in dem wir leben, kein idealer ist. Was zum Beispiel, wenn entscheidende Güter bereits ungerecht unfair verteilt sind: Haben Bewohner ärmerer Länder keinen Anspruch auf "Wohltätigkeit" seitens der anderen, die sich bereits mehr als genug gesichert haben?

Zu dieser Frage gibt es inzwischen natürlich zuhauf Literatur pro und contra, aber bei einer einzigen positiven Pflicht sind sich so ziemlich alle, inklusive Stammvater Kant selber, einig: dass man zur Hilfe verpflichtet ist, wenn sich jemand in Lebensgefahr befindet und man ihn leicht retten könnte. Die in der Moralphilosophie allseits beliebten Beispiele skizzieren hier meist die Situation eines Ertrinkenden. Ihm müssen wir helfen. Welch bittere Ironie des Schicksals.

Aus der Moralphilosophie ist das Beispiel nämlich unvermittelt ins echte Leben ausgewandert. Seit Wochen und Monaten bereits schaut Europa auf ein ganzes Meer voller Ertrinkender, voll unsicherer kleiner Boote. Teils droht noch stärker der Durst als das Ertrinken, Eltern strecken kleine Kinder in die Höhe, damit darüber hinweg fliegende Hubschrauber sie sehen mögen. Wir helfen nicht.

Kaltschnäuzige Europäer

Es ist unglaublich, mit welcher Kaltschnäuzigkeit die zuständigen europäischen Politiker exakt das nicht tun, was Philosophie, gesunder Menschenverstand und schlichter Anstand unisono zu tun gebieten. Bisweilen erheben sich mahnende Stimmen. Der Papst und das diakonische Werk riefen Europa zur Hilfe auf. UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres appellierte "an alle Nachbarregierungen in Nordafrika und Europa, die Grenzen über Land, Luft oder See offen zu halten für Menschen, die aus Libyen fliehen müssen. Alle Menschen, die Libyen verlassen, sollten ohne jegliche Diskriminierung und ungeachtet ihrer Herkunft Unterstützung erhalten."

Nicht nur diverse Oppositionspolitiker, sondern auch Markus Löning von der FDP, Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung, plädierte für ein Zeichen der Mitmenschlichkeit und Solidarität. Mitte März war das. Und was wurde daraus? Innenminister Friedrich verteidigt die Auffassung, dass vorrangig Italien in der Pflicht sei, und macht sich Sorgen um das Schengen-Abkommen.

Bei einem Sondertreffen am 12. Mai berieten die EU-Minister darüber, wie man mit den innereuropäischen Grenzen umgehen solle. Überlegt wird seit einiger Zeit auch, mit welchen Maßnahmen man die Mittelmeer-Patrouillen von Frontex "effektiver" machen kann. Kontrolle und Abwehr, nicht Hilfe stehen ganz oben auf der To-do-List der europäischen Politik.

Nur noch AKW im Kopf

Gleichzeitig ist zumindest Deutschland ganz erfüllt von Begeisterung über das eigene, neu erwachte moralische Bewusstsein. Mit seiner Kanzlerin an der Spitze beobachtet sich das Volk gebannt selbst auf dem Weg in eine Zukunft ohne Atomkraft, von der es in den letzten Jahren immer hieß, sie sei nicht möglich.

Nun geht es anscheinend doch. Aus der einen der beiden Katastrophen der letzten Monate - Fukushima - will man Konsequenzen ziehen und, so weit eben möglich, Verantwortung übernehmen. Aber in dem anderen Katastrophen-Kontext - die arabische Welt brennt, und Massen flüchten - eben noch nicht. Es wirkt, als ob alle progressiven und protestierenden Kräfte in den Kampf gegen die Atomkraft gebunden wären. Aber das kann nicht wahr sein. Jetzt, wo der Castor gleichsam aufs Abstellgleis gesetzt wurde, muss doch noch etwas Engagement für die Ertrinkenden des Mittelmeers drin sein?!

Zugegeben: Die wirkliche moralische Situation fällt deutlich komplexer aus als jedes akademische Beispiel. Beklemmend ist ja nicht allein die Situation der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer, also jener, die es bereits bis nach Nordafrika und in die Boote geschafft haben. Nicht zufällig sehen wir meist junge Männer die Felsen vor Lampedusa erreichen. Alte, Frauen, Kinder und zahlreiche weitere blieben lange vorher auf der Strecke; viele Unglückliche scheitern auf den weiten Wegen an die Küste.

Angenommen, wir wollten eine europäische Flüchtlingspolitik machen, die diesen Namen verdient: Sind wir also nur zur Aufnahme derer verpflichtet, die einen Platz im Boot ergattert haben, oder müssten wir Anlaufstellen in anderen Ländern einrichten? (Möglicherweise.) Wieso eigentlich haben Tausende Deutsche erdbebengeschädigten Japanern ungefragt angeboten, bei ihnen zu Hause unterzukommen, bieten flehenden Afrikanern jedoch nicht einmal einen Platz in einem Flüchtlingswohnheim an? (Vielleicht, weil wir fürchten, dass Armut anstecken kann.) Sind die Unterscheidung zwischen Flucht vor wirtschaftlicher und kriegsbedingter Misere sowie der Begriff der "sicheren Drittstaaten" moralisch haltbar? (Ich glaube nicht.)

Abwehren und vertrösten

Oft wird gesagt, es genüge nicht, Flüchtlinge aufzunehmen, man müsse vielmehr die Bedingungen der Flucht verändern - aber die Zukunftsmusik einer potenziell gerechten Welt tröstet die Ohren der heute Leidenden nicht. Auch das "freie Fluten", das radikale Linke früher proklamierten, ist keine realpolitische Option.

Doch dass man nicht alle Grenzen freigeben will, entlastet nicht von der Verpflichtung, den Rest der Welt politisch mitzubedenken. Hier, nicht bei der Atomkraft, würde eine Ethikkommission benötigt! Denn: Ja, die Situation ist voller Dilemmata und ungelöster weiterführender Fragen. Einstweilen aber ist eins gewiss: Das Abweisen Verdurstender und Ertrinkender vor unser aller Augen, an den Rändern satter Länder, ist ein moralisches Verbrechen.

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Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.

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