: Welches Selbst überhaupt?
SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN Eine Annäherung an die Wirklichkeit aus den Perspektiven von Naturwissenschaft, Popkultur und Literatur
VON CATARINA VON WEDEMEYER
Um seine Theorie zu beweisen, trat Samuel Johnson im 18. Jahrhundert in England gegen einen Stein und behauptete: Wirklichkeit ist das, was Widerstand leistet. Eine schöne Idee. Gemessen am Widerstand im Allgemeinen gäbe es dann jedoch relativ wenig Wirkliches. Tobias Hürter und Thomas Vašek erklären in der Hohen Luft unterschiedliche Wirklichkeitstheorien.
Die physikalische heißt „Standardmodell“ und besteht aus ernüchternden 16 Teilchen. Die Antirealisten wiederum leugnen sogar deren objektive Realität, auch Zahlen oder moralische Werte sind für sie höchstens subjektive Realitäten. Die Wirklichkeit wäre also das, was ein Subjekt erlebt, auch wenn dieses Subjekt nur ein Gehirn in einem Tank ist. Um das Gedankenexperiment von Hilary Putnam aus den Achtzigern zu veranschaulichen, nennen die Autoren das körperlose Bewusstsein Bruno. Bruno hilft zu verstehen, dass es eigentlich egal ist, ob wir in einer Traumwelt oder in der Matrix leben, denn die Wirklichkeit ist immer je unsere Wirklichkeit. Ob Meister Zhuang also träumt, er sei ein Schmetterling, oder ob der Schmetterling träumt, er sei Zhuang – es gibt kein Richtig oder Falsch.
Im Titelthema der Zeitschrift erklärt der amerikanische Moralphilosoph Derek Parfit die Wirklichkeit noch einmal anders. Er geht davon aus, dass es ethische Wahrheiten gibt, die genauso unerschütterlich existieren wie mathematische. Leiden ist also schlecht, genauso wie 1 + 1 = 2 ist. Diese Tatsachen bestimmen nicht nur die Taten, sondern auch die Wünsche der Menschen. Gleichzeitig stellt sich Parfit das Individuum nicht als Entität vor, sondern als Verbindung mehrerer psychologischer Ereignisse. Dieses kettenartige, mehrfache, getrennte, ersetzbare Ich hat Folgen. Zum Beispiel für die Authentizität.
Es lohnt sich, in diesem Kontext den Vortrag von Diedrich Diederichsen zum Imperativ des Authentischen zu lesen, den die Polar #13 in voller Länge abdruckt. Die richtige Antwort auf die Frage „Wie verwirkliche ich mich selbst?“ lautet also: welches Selbst? Das männliche, weiße, heterosexuelle? Das wäre Strategie eins, Diederichsen nennt sie die „männlich-arbeiterbewegt-rock-’n’-rollige“. Dagegen gibt es Strategie zwei, die „queer-feministisch-postmoderne“, bei der dann die Diskurse zu Kreativität, Innovation und Artifizialität heruntergeleiert werden. Beide zusammen führen zu dem paradoxen Imperativ: „Erfinde Dich halt- und bodenlos neu und verkörpere das so, als wäre das immer schon Deine Natur gewesen! Beweise Deine so hergestellte Identität durch Gefühlsausbrüche, Schweiß, Tränen, Sperma!“ Wer jedoch versucht, sich entsprechend zu verhalten, konditioniert sich selbst zu einem leistungsfähigen, flexiblen, kapitalismusfreundlichen Roboter. Und glaubt auch noch, dass er das will.
Immerhin scheint der Mensch Einfluss darauf zu haben, welche Wirklichkeit er erlebt. Jedenfalls Mathias Gatza. In der aktuellen Gegenworte beschreibt er, wie man auch heute noch zum Universalgenie werden kann, nämlich indem man sich in eine andere Wirklichkeit einarbeitet. Zum Beispiel, um einen historischen Roman zu schreiben. In dieser Gattung geht es meistens um „tragische Kollisionen ungleichzeitiger Welten“, so erfährt man in der Sinn und Form von Perry Anderson. Weil die Autoren die historischen Umstürze für notwendig hielten, um den Fortschritt anzukurbeln, zeichnen sie sie zu Beginn der Gattungsgeschichte als heldenhafte Zeiten. Damals konstituierten historische Romane die gerade neu entstehenden Nationen, heute tun sie das Gegenteil: sie literarisieren die Verwüstung von Imperien.
Der Artikel besteht aus einer fiesen Kombination von Fremdwörtern, Namedropping und Romantiteln, aber der Vergleich mit Walter Benjamins Engel der Geschichte wiegt alles auf. Wie der Engel wolle der historische Roman „wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen“.
Wenn das überhaupt auf jemanden zutrifft, dann wohl auf Cécile Wajsbrot. Die jüdische Autorin erörtert in der gleichen Ausgabe, wie man über Katastrophen schreiben kann. Also, wie man über Wirklichkeiten schreibt, die so schrecklich sind, dass sie unwirklich erscheinen. In einem Punkt hatte Samuel Johnson mit seinem Tritt gegen den Stein nämlich Recht: Die Wirklichkeit schmerzt.
■ Hohe Luft 2/2013, 8 Euro; Polar #13 Aufstand, Herbst 2012, 14 Euro; Gegenworte 28, Zwischen den Wissenschaften, Herbst 2012, 14 Euro; Sinn und Form, Januar/Februar 2013, 9 Euro